7. November 2019
Zwei Minderjährige aus einer Thüringer Jugendhilfeeinrichtung abgeschoben!

UPDATE vom 23.01.2020: Eine parlamentarische Anfrage von Astrid Rothe-Beinlich (MdL, Bündnis 90/ Die Grünen) zeigt neue Details der Abschiebung. Die Minderjährigen waren suizidal und wurden nach einem erfolgten Notarzteinsatz gefesselt. Der Notarzt bestätigte die Reisefähigkeit. Die Jugendlichen wurden von der Polizei aus der Jugendhilfeeinrichtung abgeholt. Verbände und Flüchtlingsrat unterstreichen ihre Kritik an der gegen jedes Kindeswohl sprechenden Praxis.

 

Flüchtlingsrat fordert nach der Abschiebung Minderjähriger aus einer Jugendhilfeeinrichtung lückenlose Aufklärung und einen Thüringer Erlass zum Abschiebeverbot aus Jugendhilfeeinrichtungen!

Nach Informationen des Flüchtlingsrates erfolgte bereits am 18.09.2019 eine nächtliche Abschiebung von zwei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen aus einer Thüringer Jugendhilfeeinrichtung - ein bisher einzigartiges und besonders drastisches Vorgehen im Freistaat. Im Rahmen einer Sammelabschiebung wurden die beiden 16-jährigen Jungen zum Flughafen Karlsruhe/ Baden-Baden gebracht und von dort nach Albanien abgeschoben.

Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen sind Orte, an denen das Kindeswohl geschützt werden soll und Kinder leben, die auf diese Fürsorge und den Schutz angewiesen sind. „Kinder und Jugendliche brauchen sichere Orte! Dass die Ausländerbehörde des Saale-Orla-Kreises eine Abschiebung aus einer solchen Einrichtung veranlasst, ungeachtet des Kindeswohles der Betroffenen und der anderen Kinder in dieser Einrichtung, dazu noch mitten in der Nacht, ist kaum zu glauben und zeigt eine neue Dimension der Praxis von Abschiebungen um jeden Preis“, so Ellen Könneker vom Flüchtlingsrat Thüringen e.V.

„Wir verurteilen die Abschiebung der beiden Jugendlichen aufs Schärfste! Es muss in Thüringen unverzüglich sichergestellt werden, dass keine Abschiebungen aus Jugendhilfeeinrichtungen erfolgen dürfen!“, fordert Ellen Könneker. Die tatsächlichen Umstände dieser Abschiebung werfen zudem drängende Fragen zum rechtmäßigen Handeln der beteiligten Akteure auf und müssen lückenlos aufgeklärt werden.

Beide Jungen waren in einer Jugendhilfeeinrichtung im Landkreis Saalfeld-Rudolstadt untergebracht, unterlagen aber der Zuständigkeit der Behörden des Saale-Orla-Kreises. Nach vorliegenden Informationen sollten sie aus der Einrichtung mitten in der Nacht vom 17. auf den 18.09.2019 abgeschoben werden. Den konkreten Termin haben sie erst am Vortag erfahren. Da es den Jungen am Abend des 17.9.2019 psychisch und körperlich extrem schlecht ging, sah man sich in der Jugendhilfeeinrichtung veranlasst, den medizinischen Notdienst anzufordern. Etwa gleichzeitig sei Polizei eingetroffen. Beide Jungen seien dann von der Polizei mit zur Polizeiwache genommen worden. Etwa 1- 2 Stunden später in der Nacht seien dann die Polizist*innen für die Abschiebung auf die Polizeiwache gekommen und es sei der Transport zum Abschiebeflughafen erfolgt. Einer der Jungen berichtet, dass ihnen Hand- und Fußfesseln angelegt worden seien. Mindestens einer der beiden Jungen ist eigenen Aussagen zufolge nicht von einem sorgeberechtigten Elternteil in Albanien am Flughafen in Empfang genommen worden. Er hält sich aktuell unter schwierigen Lebensbedingungen und mit wechselndem Wohnsitz in Tirana auf.

Abschiebungen von minderjährig unbegleiteten Flüchtlingen sind nur in einem sehr engen rechtlichen Rahmen und unter strengsten Vorgaben möglich. Die Wahrung des Kindeswohls und der besonderen Kinderrechte müssen ausnahmslos sichergestellt sein.

„Wir fordern die Rückkehr der beiden Jungen und die Aufhebung der rechtlichen Folgewirkungen ihrer Abschiebung! Kindeswohlaspekte sind offensichtlich weder ausreichend in die Betrachtung einbezogen worden, noch die Umstände, in denen zumindest einer der Jungen angekommen ist“, so Könneker.

Der Verein fordert schon seit einer versuchten Abschiebung eines gerade volljährig gewordenen eritreischen jungen Heranwachsenden aus einer Thüringer Jugendhilfeeinrichtung Ende 2018 einen Thüringer Erlass, der die Abschiebung aus Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe sowie aus Bildungseinrichtungen verbietet.

In dem konkreten Fall stellen sich viele Fragen:

  • Wie hat sich die Ausländerbehörde vergewissert und sicherstellen wollen (in mindestens einem Fall offensichtlich erfolglos), dass die beiden Minderjährigen tatsächlich den sorgeberechtigten Eltern übergeben werden und diese sie auch aufnehmen? Was veranlasste die Ausländerbehörde dazu, die Abschiebung aus einer Jugendhilfeeinrichtung zu planen?
  • In welchem Umfang war die Abschiebe-Abteilung des Thüringer Landesverwaltungsamt an der technischen und zeitlichen Vorbereitung dieser Maßnahme aus der Jugendhilfeeinrichtung beteiligt?
  • Welche Maßnahmen wurden von dem Vormund/ der Vormundin bzw. dem Jugendamt ergriffen, um die Rechtmäßigkeit der Abschiebung zu überprüfen und die vorrangige Beachtung des Kindeswohls der Jungen sicherzustellen?
  • Von wem und in welcher Form wurde die Reisefähigkeit der Jungen in der Nacht überprüft?
  • Warum und auf welcher rechtlichen Grundlage ist die Polizei bereits im Vorfeld der geplanten Abschiebung in der Jugendhilfeeinrichtung aktiv geworden und hatte die Jungen mitgenommen?
  • Warum wurden Hand- und Fußfesseln eingesetzt und wie ist dies unter Kindeswohl-Aspekten zu rechtfertigen?