Strukturelle Mängel in der Erstaufnahme Suhl

Beobachtende Berater:innen

Reinhard Hotop ist behördenunabhängiger Asylverfahrensberater des Evangelischen Migrationsdiensts Südthüringen auf dem Gelände der Erstaufnahmeeinrichtung (EAE) Suhl. Er und seine Kollegin beraten nicht nur täglich die Anträge der Bewohner:innen, sondern hören ihnen zu, wenn sie von den Zuständen in der Einrichtung erzählen. Gegen die strukturellen Defizite können die Berater:innen nichts unternehmen. Die EAE Suhl wird vom Landesverwaltungsamt betrieben, welches dem Thüringer Innenministerium untersteht. Aber sie können die Zustände sichtbar machen.

Carola Wlodarski ist Projektkoordinatorin des Anonymer Krankenschein Thüringen e.V. Der Verein widmet sich der medizinischen Versorgung von Menschen ohne Krankenversicherung in Thüringen. Das Thüringer Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie (TMASGFF) finanziert das Projekt seit 2016. Grundsätzlich sind Geflüchtete in den Erstaufnahmeeinrichtungen über das Asylbewerberleistungsgesetz in das Regelversorgungssystem integriert. Der Verein sieht allerdings gravierende Mängel in der Umsetzung, kann jedoch aufgrund der Förderrichtlinien nicht selbst zur Verbesserung aktiv werden. In dieser Übersicht werden ihre Beobachtungen zur medizinischen Versorgung sichtbar.

Das MediNetz Jena e.V. setzt sich für eine gute und gleiche Gesundheitsversorgung für alle Menschen ein. Daher treten sie seit mehreren Jahren regelmäßig mit Bewohner:innen der EAE Suhl in Kontakt und fahren fast monatlich vor die EAE in Suhl, um von den dort wohnenden Menschen zu erfahren, wie sie untergebracht sind und insbesondere, wie die medizinische Versorgung ist. Medinetz e.V. hat am 17.Juli 2024 einen Offenen Brief zur Gesundheitsversorgung veröffentlicht.

Wir als Flüchtlingsrat ergänzen die Beobachtungen mit Lösungsvorschlägen. 

Die EAE Suhl ist für die Unterbringung von 800 Menschen im Normalbetrieb ausgelegt. Immer wieder werden diese Belegungszahlen oft über mehrere Monate weit überschritten. Praktisch verbringen die Ankommenden in Thüringen zwischen mehreren Wochen bis mehreren Monaten in der EAE Suhl.
 

  • Beobachtung: Alleinreisende Frauen und Männer werden in getrennten Häusern untergebracht. Doch die Zimmer und Bäder sind nicht abschließbar. Viele Frauen haben daher nachts Angst und leiden unter Schlafstörungen.
    Lösung: Die bereits installierte Schließanlage am Männerhaus muss in Betrieb genommen werden. In den anderen Häusern müssen Schließanlagen eingebaut werden.
     
  • Beobachtung: Es mangelt an Grundausstattung, vor allem an Nahrungsmitteln, Bettwäsche, Hygieneartikeln, Kleidung und Putzmitteln.
    Lösung: Zwischen der Verwaltung des Landesverwaltungsamtes und der Sozialarbeit, vertreten durch den ASB Regionalverband Südwestthüringen e.V., bedarf es engere Absprachen. Die Essensversorgung der Kantine muss verbessert werden. Zudem sollte das Landesverwaltungsamt die Möglichkeiten der Selbstversorgung ausbauen. Kleidung sollte in angemessener Anzahl, Qualität und Größen vorbehalten werden – unabhängig von Spenden. Ist das nicht möglich, sollten Einkaufgutscheine oder Bargeld zum Einkauf zur Verfügung gestellt werden. In den Wintermonaten sollte Winterkleidung an die Geflüchteten herausgegeben werden. Um die Ausgabe in der Kleiderkammer zu verbessern, könnten Ehrenamtliche mit einbezogen werden.
     
  • Beobachtung: In der Vergangenheit kam es mehrmals zu Ausbrüchen von Infektionskrankheiten durch Schädlingsbefall, wie etwa Krätze.
    Lösung: Die benutzten Matratzen sollten vor dem Einzug eines neuen Bewohners oder einer neuen Bewohnerin gereinigt werden. Die Sanitäranlagen sollten mindestens 2x täglich gereinigt werden. Zum Aufsammeln des Mülls auf dem Gelände sollte die Einteilung der Freiwilligen besser koordiniert werden.
     
  • Beobachtung: Durch die andauenden Überbelegungen ist die Anzahl der Sanitäreinrichtungen und Toiletten nicht ausreichend. Dadurch verschmutzen die Anlagen sehr stark.
    Lösung: Die Sanitäranlagen sollten 2x täglich gereinigt werden.
     
  • Beobachtung: Schwangere und Menschen mit Gehbehinderung sowie Mobilitätseinschränkung müssen in den Wohnblocks die Treppen nutzen.
    Lösung: Die Fahrstühle müssen für Menschen mit Einschränkungen zur Nutzung freigegeben werden.
     
  • Beobachtung: Der Zugang zu Kommunikationsmöglichkeiten ist für viele Geflüchtete lebenswichtig. Es gibt (nach Kenntnis der Asylverfahrensberater:innen) in den Wohnbereichen lediglich in den Eingangsbereichen der Wohnblocks offenes W-LAN.
    Lösung: Der  W-LAN-Zugang sollte auf dem gesamten Gelände, mindestens aber in den Gebäuden, ermöglicht werden.
     
  • Beobachtung: Die Fenster der Zimmer bieten weder Privatsphäre noch Sonnenschutz. Im Sommer wärmen sich die Räume enorm auf.
    Lösung: Das Anbringen von Jalousien oder anderen Verdunklungsmöglichkeiten ist notwendig.
(Angaben des Evangelischen Migrationsdiensts Südthüringen)

 

  • Beobachtung: Immer wieder gibt es problematisches Verhalten einzelner Security-Mitarbeiter. Zuletzt wurden rassistische Parolen (MDR-Bericht) von deutschen Security-Mitarbeitern öffentlich. Das verursacht ein Gefühl der Unsicherheit bei den Bewohner:innen.
    Lösung: Das Gewaltschutzkonzept des Landesverwaltungsamtes muss ernst genommen und umgesetzt werden. Das Sicherheitspersonal sollte hinsichtlich Deeskalationsstrategien geschult werden. Unangemessenes, rassistisches oder diskriminierendes Verhalten der Security darf nicht folgenlos bleiben. Es braucht ein effektives Beschwerdemanagement für die Bewohner:innen.
     
  • Beobachtung: Queere Menschen leben unter einem erheblichen Sicherheitsrisiko, dass ihr Aufenthaltsort bekannt wird (durch Nachforschung von Verfolgungspersonen) oder ihre sexuelle Identität im Camp durch dritte Personen öffentlich gemacht wird.
    Lösung: Insbesondere bei Angehörigen sexueller Minderheiten muss der Datenschutz streng eingehalten werden. Hier müssen alle beteiligten Mitarbeitenden nachdrücklich zum Datenschutz verpflichtet werden. Der Aufenthalt in der EAE sollte so kurz wie möglich sein und bei der Zuweisung in die Landkreise und kreisfreien Städte sollte der besondere Schutzbedarf Berücksichtigung finden.
(Angaben des Evangelischen Migrationsdiensts Südthüringen)

 

  • Beobachtung: Mindestens 30 Schwangere in der EAE Suhl erhalten keine Schwangerschaftsvorsorgeuntersuchungen (Stand 16.05.2024). Dieser Umstand ist besonders kritisch, da Jugendämter bei nicht erfolgten Vorsorgeuntersuchungen während der Schwangerschaft eine Kinderwohlgefährdung gesehen haben.
    Lösung: Schwangerschaftsvorsorgeuntersuchungen sowie die fachärztliche Betreuung der Schwangeren muss sichergestellt werden.
     
  • Beobachtung: Zahlreiche Betroffene leiden unter Zahnschmerzen und Entzündungen. Diese werden in der Regel mit der Gabe leichter Schmerzmittel (Paracetamol) „behandelt“, andere Maßnahmen werden nicht getroffen. Kostenübernahmen für zahnmedizinische Behandlungen werden nicht erteilt.
    Lösung: Die medizinische Versorgung darf nicht auf eine Minimalst- oder Notversorgung beschränkt sein. Nach den rechtlichen Grundlagen hat die medizinische Versorgung von akuten oder schmerzhaften Erkrankungen regulär zu erfolgen. Dafür können auch Behandlungsscheine für niedergelassene Ärzt:innen ausgestellt werden.
(Angaben des Anonymen Krankenschein Thüringen e.V.)
  • Beobachtung: Die sich häufenden Fälle unzureichender Behandlung durch den medizinischen Dienst in der EAE in Suhl, der Bewohner:innen mit weniger Versorgung zurücklässt, als es durch das AsylBLG möglich wäre. Es ist eindeutig, dass die Fälle mangelnder Versorgung in der Erstaufnahme in Suhl sich nur in Teilen auf den rechtlichen Rahmen, den das AsylBLG diesbezüglich vorgibt, zurückführen lassen. Besonders bei den Fällen unterversorgter Schwangerer wird das deutlich. Das Asylbewerberleistungsgesetz gewährt explizit Schwangerschaftsvorsorge: „Werdenden Müttern und Wöchnerinnen sind ärztliche und pflegerische Hilfe und Betreuung, Hebammenhilfe, Arznei-, Verband- und Heilmittel zu gewähren.“ Aber auch viele andere Menschen hätten auch über das AsylBLG eine intensivere Behandlung bekommen müssen. Daher ist deutlich: Es besteht konkreter Handlungsbedarf in Suhl. Fälle, in denen es uns gelang, innerhalb weniger Minuten Fachärzt:innen für Bewohner:innen zu organisieren, zeigen, dass diese Situation oft nicht auf ausgeschöpfte lokale Kapazitäten zurückzuführen ist.
    Lösung: Die medizinische Versorgung darf nicht auf eine Minimalst- oder Notversorgung beschränkt sein. Nach den rechtlichen Grundlagen hat die medizinische Versorgung von akuten oder schmerzhaften Erkrankungen regulär zu erfolgen. Dafür können auch Behandlungsscheine für niedergelassene Ärzt:innen ausgestellt werden.

(Angaben des MediNetz e.V.)

  • Beobachtung: Es ist nicht absehbar, wann ein Transfer von der EAE in die Landkreise durchgeführt wird. Manche Bewohner:innen warten Wochen, andere Monate darauf – der Grund dafür ist unklar. Familien oder sich gegenseitig unterstützende Personengruppen werden oft beim Transfer getrennt und unterschiedlichen Landkreisen zugewiesen.
    Lösung: Viele Geflüchtete haben legitime Fragen hinsichtlich ihrer Verteilung in die Landkreise. Es wäre hilfreich, wenn es eine feste Sprechzeit dafür gäbe. Da die Asylverfahrensberater:innen häufig auf Probleme der Verteilung angesprochen werden, brauchen sie einen Ansprechpartner und einen verlässlichen Kommunikationsweg, um die Informationen weiterzugeben. Familientrennungen sind unbedingt zu vermeiden. Fluchtgemeinschaften sollten nicht getrennt werden.
     
  • Beobachtung: Geflüchtete werden in manchen Fällen vor der Anhörung in einen Landkreis überstellt. Dadurch werden sie daran gehindert, eine vorbereitende Beratung im Asylverfahren in Anspruch zu nehmen. Außerdem erhöhen sich der Verwaltungsaufwand und die Reisekosten.
    Lösung: Wenn ein Transfer vor der Anhörung des Asylverfahrens notwendig ist, muss es eine enge Abstimmung mit dem BAMF geben.
     
  • Beobachtung: Für die freiwillige Rückkehr dauert der Prozess der Antragstellung und Passbeschaffung oft mehrere Wochen. In mehreren Fällen ist eine freiwillige Rückkehr daran gescheitert, dass die Pässe der Bewohner:innen nicht rechtzeitig in der Dienststelle Suhl des Landesverwaltungsamtes aufgefunden wurden.
    Lösung: Es sollten klare Festlegungen vom Landesverwaltungsamt aufgestellt werden, wie mit Menschen umgegangen wird, die eine freiwillige Rückkehr wünschen. Es wäre gut, die Organisationsstruktur der Verwaltung zu überprüfen, damit ein schneller Zugriff auf Dokumente Geflüchteter ermöglicht wird. Hier muss es ebenfalls eine enge Abstimmung mit dem BAMF geben. Die Versorgung der Person bis dahin sichergestellt wird. 
(Angaben des Evangelischen Migrationsdiensts Südthüringen)
  • Beobachtung: In der EAE leisten viele Bewohner:innen freiwillige Arbeit, zum Beispiel in der Küche oder bei der Sauberhaltung der Außenbereiche. Für ihren Einsatz bekommen sie 0,80 Euro je Stunde. In mehreren Fällen ist es vorgekommen, dass die Menschen transferiert wurden, ohne die Auszahlung des Entgeltes. Das führt zu Verunsicherung und reduziert die Bereitschaft zu freiwilliger Arbeit.
    Lösung: Transparentes und zuverlässiges Auszahlungsverfahren für geleistete Arbeitsstunden, ggf. in Kooperation mit den Gemeinschaftsunterkünften in den Landkreisen nach dem Transfer der Bewohner:innen.
(Angaben des Evangelischen Migrationsdiensts Südthüringen)

 

Stand: 19.09.2024

 

V.i.S.d.P.
Reinhard Hotop
Evangelischer Migrationsdienst Südthüringen
behördenunabhängige Asylverfahrensberatung in der Erstaufnahmeeinrichtung in Suhl
Weidbergstaße 24-26
98527 Suhl

 

Archiv (ab 2020)

 

17.Juli 2024 Offener Brief von Medinetz zur Gesundheitsversorgung in Suhl

12. Dezember 2023: Angekommen? Jawad kommt zu Wort
28. März 2023: Flüchtlingsrat mahnt Verbesserungen für Geflüchtete durch Landesamt für Migration an
1. Februar 2023: Vorfall mit Sicherheitsdienst am 22.10.2021 in EAE Suhl
7. Dezember 2022: Erstaufnahme für Geflüchtete in Suhl entlasten – Jugendherbergen nutzen
24. November 2022: Erstaufnahmeeinrichtung Suhl: Es braucht wirksame Konsequenzen und kein Abtreten der Verantwortung an Beratungsstellen
13. Mai 2022: Nach wiederholten Angriffen von Security-Dienst-Mitarbeitern auf Schutzsuchende in der Erstaufnahmeein-richtung in Suhl fordern ezra, Lager-Watch Thüringen und der Flüchtlingsrat Thüringen e.V. Konsequenzen
5. Mai 2022: Europäischer Protesttag für Menschen mit Behinderung: Versorgung von geflüchteten Menschen mit Behinderung in Thüringen ist miserabel!
27. April 2022: Flüchtlingsaufnahme in Thüringen braucht dringend eine Neustrukturierung
16. November 2021: Skandalöser Umgang einzelner Securitys der Erstaufnahmeeinrichtung Suhl
15. November 2021: Flüchtlingsrat Thüringen e.V., Seebrücke Jena und Erfurt, Lager-Watch Thüringen und Refugee Law Clinic Jena: Würdevolle Lebensbedingungen bei der Erstaufnahme schaffen statt rassistischer Stimmungsmache!
2. Juni 2021: Die Erstaufnahmeeinrichtung für Geflüchtete braucht eine sachliche und differenzierte Kritik und keine Stimmungsmache gegen die Bewohner:innen
26. März 2020: Menschen sind in Sammelunterkünften einem enorm hohen Infektionsrisiko ausgesetzt
25. März 2020: Polizei Suhl liefert mit Falschmeldung Grundlage für Hetze gegen Geflüchtete
1. Oktober 2020: Erschütternde Vorgänge in der Erstaufnahmeeinrichtung Suhl