Erklärung des Flüchtlingsrats anlässlich des Tags des Flüchtlings am 2.10.2015
Der Flüchtlingsrat hat sich in diesem Jahr besonders schwer getan, eine Entscheidung für den/die PreisträgerIn für die größtmögliche Gemeinheit zu finden. „Nicht, weil es uns an würdigen AnwärterInnen für diesen Preis gemangelt hätte“, sagt Undine Zachlot vom Vorstand des Flüchtlingsrates. „Im Gegenteil, die Auswahl war sehr groß. Deshalb haben wir uns in diesem Jahr dafür entschieden, alle KandidatInnen gleichberechtigt zum Zuge kommen zu lassen.“
Ganz vorn mit dabei: Die Europäische Union und ihre Institutionen für die unbeschreiblich menschenverachtende Abschottungspolitik anstatt legale Fluchtwege zu ermöglichen. Erst kürzlich beschlossen die Mitgliedsstaaten sogenannte Hotspots einzurichten, die der Internierung von Geflüchteten dienen werden. Sie werden gefährliche Fluchtwege keineswegs sicherer machen, sondern sind ein Versuch, die Flüchtlinge aus unserem Bewusstsein weiterhin an die Ränder Europas zu verlagern. Ihr Sterben auf dem Mittelmeer wird dabei in Kauf genommen. Neue Grenzkontrollen, Zäune und Abschreckungsmaßnahmen werden Flüchtlinge nicht davon abhalten, für sich und ihre Kinder auf eine sicherere Zukunft zu setzen und sich auf den Weg machen. Für das fehlende Verantwortungsbewusstsein der EU und ihrer Mitglieder hat sie sich für den Preis für die größtmögliche Gemeinheit qualifiziert.
Auch wenn Deutschland und die deutsche Bundesregierung für ihre Entscheidung gelobt werden, den unmenschlichen Zuständen in Ungarn Mitte August bis in den September hinein ein Ende zu setzen, müssen wir festhalten, dass der Gesetzesentwurf des Bundesinnenministers zum Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz vorrangig der Abschreckung und Entrechtung von Geflüchteten dienen soll. Die Zustimmung der Länder wird mit Geld erkauft, die eine Rückkehr zu Restriktionen und Sanktionen gegenüber Geflüchteten nach sich zieht und Erfolge der vergangenen Jahre aus vielen Bereichen der Asylpolitik zum Hohn macht. Insbesondere eine pauschalierte Einstufung von Herkunftsländern als „sicher“ wird möglicherweise der aktuellen Stimmung in Deutschland gerecht, aber keineswegs der Situation in diesen Ländern. Somit hat auch die deutsche Bundesregierung den Preis verdient.
Auch in Thüringen erlebten wir überzeugende AnwärterInnen auf den diesjährigen Preis für die größtmögliche Gemeinheit, denn:
- wenn Andreas Bausewein als führender Sozialdemokrat das Aussetzen der Schulpflicht fordert;
- wenn Abschiebungen als Mittel von Landtagsabgeordneten, Mandatsträgern und einem Bischof diskutiert werden, als gäbe es Quoten oder Kennzahlen zu erfüllen,
- wenn politische VerantwortungsträgerInnen Unwahrheiten in sozialen Netzwerken und in der Öffentlichkeit verbreiten, wie beispielsweise vom CDU-Abgeordneten Heym im Thüringer Landtag geschehen,
- wenn DemagogInnen wie Björn Höcke und seine AfD Befürchtungen der Menschen für ihre eigene Profilierung missbrauchen,
dann haben wir auch in Thüringen potentielle PreisträgerInnen zuhauf.
Wir haben in diesem Jahr auch in den Kommunen und Landkreisen Beispiele erlebt, für politische Entscheidungen und/ oder rechtliche Unkenntnis, durch die das Leben von Flüchtlingen unnötig erschwert wird. Wenn in einem Landkreis (auch mit Wohnungsleerstand) ein reines Flüchtlingsdorf in Obermehler geplant wird, offensichtlich um die heimische Bevölkerung vor Geflüchteten zu „schützen“, dann sind wir über derartige Gemeinheiten fassungslos.
All diese PreisträgerInnen und viele weitere haben unmittelbar oder mittelbar Auswirkungen auf das Leben von Geflüchteten. Denn sie machen die Flucht noch gefährlicher und beschwerlicher, das Leben in diesem Land für Geflüchtete noch prekärer und befördern eine Stimmung gegenüber MigrantInnen.
Sie alle dürfen sich in diesem Jahr als PreisträgerInnen fühlen, denn das Handeln auf allen diesen Ebenen politischer Verantwortung zeigt deutlich Versagen und/ oder Unwillen, Menschen ehrlich willkommen zu heißen und ihnen eine Chance zu geben, ein würdevolles Leben in diesem Land zu beginnen.