Dass die Leistungen für alleinstehende und alleinerziehende Asylsuchende und Geduldete in Sammelunterkünften seit 2019 um zehn Prozent gekürzt werden, ist verfassungswidrig.
Im Urteil des Bundesverfassungsgerichts heißt es: „Weder im Gesetzgebungsverfahren noch im verfassungsrechtlichen Verfahren wurde hinreichend tragfähig begründet, dass tatsächlich die Möglichkeit besteht, diese Einsparungen durch gemeinsames Wirtschaften in Sammelunterkünften zu erzielen.“ (Rn 90) Dieses Urteil zum Asylbewerberleistungsgesetz fällte heute das Bundesverfassungsgericht in einem von PRO ASYL unterstützen Verfahren.
Menschenwürdiges Existenzminimum gilt für alle Menschen gleich in Deutschland
Wiebke Judith, rechtpolitische Sprecherin von PRO ASYL, kommentiert das Urteil: „Mit seinem heutigen Urteil stärken die Verfassungsrichter und ‑richterinnen ihre bisherige Rechtsprechung und stellen fest: Die Menschenwürde gilt für alle Menschen gleich in Deutschland. Migrationspolitisch motivierten Kürzungen im Asylbewerberleistungsgesetz und Kürzungen ohne Faktenbasis wird eine klare Absage erteilt. Das Bundesverfassungsgericht ist somit erneut ein wichtiges Korrektiv, um ein menschenwürdiges Leben für schutzsuchende Menschen in Deutschland zu garantieren.“
Das Bundesverfassungsgericht hält für aktuelle Debatten höchst relevant fest: „Migrationspolitische Erwägungen, Anreize für Wanderungsbewegungen durch ein im internationalen Vergleich eventuell hohes Leistungsniveau zu vermeiden, können von vornherein kein Absenken des Leistungsstandards unter das physische und soziokulturelle Existenzminimum rechtfertigen. Die in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren.“ (Rn. 56)
Asylbewerberleistungsgesetz abschaffen – Bürgergeld für Geflüchtete
Das Urteil stärkt zudem die Kritiker*innen des Asylbewerberleistungsgesetzes, die seit Jahren die Abschaffung dieses diskriminierenden Gesetzes fordern. „Das Urteil aus Karlsruhe ist auch ein Arbeitsauftrag für die Ampel-Regierung, endlich den Missständen bei der Versorgung von Asylsuchenden ein Ende zu setzen. Konsequent ist einzig und allein die Abschaffung des diskriminierenden Asylbewerberleistungsgesetzes und die Einbeziehung aller Geflüchteten ins Bürgergeld“, sagt Wiebke Judith. Schließlich hatte die Ampel in ihrem Koalitionsvertrag eine Überarbeitung des Asylbewerberleistungsgesetzes „im Lichte der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts“ versprochen. Geändert wurde bislang jedoch nichts.
„Das Asylbewerberleistungsgesetz verstößt gegen die Verfassungsgrundsätze der Menschenwürde, des Sozialstaatsprinzips und des Gleichheitsgebots, gegen die UN-Kinderrechtskonvention und das Menschenrecht auf Gesundheit. Die diskriminierenden Sachleistungen und die Minimalmedizin sind dabei auch noch nachweislich teurer als reguläre Sozialleistungen“, sagt Georg Classen, vom Flüchtlingsrat Berlin, der erst vor wenigen Tagen im November 2022 gemeinsam mit PRO ASYL eine umfassende Analyse des Asylbewerberleistungsgesetzes veröffentlicht hat. Und ergänzt: „Arbeitsverbote führen häufig dazu, dass Geflüchtete überhaupt auf Sozialleistungen angewiesen sind. Das gegenüber der Sozialhilfe beziehungsweise Hartz IV abgesenkte Leistungsniveau des Asylbewerberleistungsgesetzes, die Sanktionen mit Kürzungen um mehr als 50 Prozent und der nicht überprüfbare Maßstab für Sachleistungen in Sammellagern führen in der Praxis zu willkürlichen, geradezu beliebigen Einschränkungen des Leistungsniveaus.“
Urteil: Politischer Kompromiss darf nicht zu sachlich nicht begründbaren Ergebnissen führen
Zum Hintergrund der heutigen Entscheidung: Seit September 2019 erhalten alleinstehende und alleinerziehende Geflüchtete um zehn Prozent gekürzte Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, wenn sie in einer Sammelunterkunft wohnen. Begründet wird die Kürzung damit, dass die Geflüchteten in Gemeinschaftsunterkünften „als Schicksalsgemeinschaft“ wie Ehepartner*innen „aus einem Topf“ zusammen wirtschaften und dadurch Geld sparen würden (Bundestagsdrucksache 19/10052 S. 24).
Hierzu hält das Bundesverfassungsgericht fest:
„Auch ein politisch ausgehandelter Kompromiss darf nicht zu sachlich nicht begründbaren Ergebnissen führen. Schlicht gegriffene Zahlen genügen ebenso wenig wie Schätzungen ins Blaue hinein den verfassungsrechtlichen Anforderungen, wenn sie nicht wenigstens im Ergebnis nachvollzogen werden können.“ (Rn. 59)
„Die pauschale Absenkung nach § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG stützt sich nicht auf hinreichend tragfähige Erkenntnisse dazu, dass Bedarfe durch Verhalten der Betroffenen in diesem Umfang tatsächlich verringert werden können. Hier genügt die Annahme, die Betroffenen bildeten eine „Schicksalsgemeinschaft“ (BTDrucks 19/10052, S. 24), nicht. Auch die Annahme, dass eine Obliegenheit, gemeinsam zu wirtschaften, tatsächlich erfüllt und dadurch Einsparungen in entsprechender Höhe erzielt werden könnten (vgl. BTDrucks 19/10052, S. 24), ist nicht durch empirische Erkenntnisse belegt. Entsprechende Untersuchungen liegen auch drei Jahre nach Inkrafttreten der Regelung nicht vor.“ (Rn. 89)
PRO ASYL unterstützte die Klage
Angerufen wurde das höchste deutsche Gericht vom Sozialgericht Düsseldorf, das die Regelung für verfassungswidrig hielt. Geklagt hatte ein geduldeter Mann aus Sri Lanka, der in einer Gemeinschaftsunterkunft lebt, PRO ASYL hat das Verfahren unterstützt. Rechtsanwältin in dem Verfahren ist die ausgewiesene Sozialrechtlerin Eva Steffen, die bereits 2012 erfolgreich gegen das Asylbewerberleistungsgesetz geklagt und vom Verfassungsgericht Recht bekommen hatte.
Dass die zehnprozentige Leistungskürzung nun vom Bundesverfassungsgericht gekippt wurde, überrascht nicht. Zahlreiche Fachorganisationen hatten in dem Verfahren beim Bundesverfassungsgericht kritische Stellungnahmen abgegeben. Für PRO ASYL hat Rechtsanwalt und Sozialrechtsexperte Volker Gerloff in seiner Stellungnahme erläutert, dass die fiktive „Zwangsverpartnerung“ durch den Gesetzgeber jeder sachlichen und empirischen Grundlage entbehrt.
Mit der heutigen Entscheidung wurde das Asylbewerberleistungsgesetz nicht zum ersten Mal vom Verfassungsgericht korrigiert. Schon 2012 hatte das höchste deutsche Gericht jahrelangen Leistungskürzungen durch das Asylbewerberleistungsgesetz in einem wegweisenden Urteil ein vorläufiges Ende gesetzt. Die heute gekippte Regelung ist nicht die einzige im Asylbewerberleistungsgesetz, die offenkundig verfassungswidrig erscheint. In Karlsruhe ist ein weiteres Verfahren anhängig, diesmal zur Ermittlung der Höhe der Leistungssätze nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (Az 1 BvL 5/21).
Für die Praxis:
Das Gericht verfügte mit seinem heutigen Urteil die Gewährung ungekürzter Leistungen nach Regelbedarfsstufe 1 ab sofort. Dies gilt auch rückwirkend, soweit gegen entsprechende Kürzungen noch fristgemäß Widerspruch oder Klage eingelegt wird oder wurde. Das Urteil bezieht sich formal nur auf Analogleistungen nach § 2 AsylbLG, ist aber nach rechtlicher Einschätzung von PRO ASYL und dem Berliner Flüchtlingsrat auf die noch geringeren, ebenfalls um zehn Prozent gekürzten Leistungen nach §§ 3/3a AsylbLG für Alleinstehende in Sammelunterkünften übertragbar, gegen die daher jetzt ebenfalls Widerspruch und Klage eingelegt werden sollte.
Kontakt für Presseanfragen:
Wiebke Judith, PRO ASYL: presse@proasyl.de, 069/24 23 14–30
Georg Classen, Flüchtlingsrat Berlin: georg.classen@gmx.net
Eva Steffen, Rechtsanwältin: 0571/388 566 16
Die Analyse der Regelsätze nach AsylbLG und SGB II/XII kann per E‑Mail mit Betreff „AsylbLG Broschüre“ bei buero@fluechtlingsrat-berlin.de bestellt werden. Wir bitten um 3 Euro für Porto und Versand an Flüchtlingsrat Berlin, IBAN DE66 1002 0500 0003 2603 03, Zweck „AsylbLG Broschüre“. Bitte der Bestellung eine Kopie des Überweisungsbelegs beifügen