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2017 08 15 FLR Stellungnahme Entwurf VO ThürSchulO ThürSObG ThürKollegO
Stellungnahme zum Entwurf einer Verordnung zur Änderung der Thüringer Schulordnung für die Grundschule, die Regelschule, die Gemeinschaftsschule, das Gymnasium und die Gesamtschule, der Thüringer Schulordnung für das berufliche Gymnasium sowie der Thüringer Kollegordnung
Der Flüchtlingsrat Thüringen e.V. setzt sich seit vielen Jahren auf landespolitischer Ebene für die Rechte von Geflüchteten ein und ist u.a. Teilprojektpartner im Thüringer Bleiberechtsnetzwerk „BLEIBdran - Berufliche Perspektiven für Flüchtlinge in Thüringen“, gefördert durch das ESF-Bundesprogramm „ESF Integrationsrichtlinie Bund“. Ein Schwerpunkt unserer Arbeit ist neben der
Unterstützung von Geflüchteten hinsichtlich des Zugangs zum Arbeitsmarkt auch der Zugang zu Bildung. Dies umfasst auch die Zielgruppe der geflüchteten Kinder, Jugendlichen und jungen Volljährigen. Geflüchtete Kinder und Jugendliche stehen aufgrund der Erlebnisse im Heimatland und auf der Flucht sowie der neuen Sprache vor einer Reihe von Herausforderungen. Das Thüringer Bildungssystem muss diesen Bedarfen mit entsprechenden Angeboten begegnen, um u.a. einen bestmöglichen und erfolgreichen Schulabschluss zu ermöglichen. Bereits in vorangehenden Stellungnahmen zur Änderung der Berufsschulordnung sowie der Änderung des Schul- und Schulfinanzierungsgesetzes im Mai 2015 und September 2016, sowie im
Anhörungsverfahren betreffend die Beschulung geflüchteter Kinder, Jugendlicher und junger Erwachsener vom November 2016, betonte der Flüchtlingsrat Thüringen e.V. die Wichtigkeit schulischer Bildung und schulischer Abschlüsse für den persönlichen Werdegang dieser Personengruppen. In Bezug auf den vorliegenden Verordnungsentwurf zur Änderung der Thüringer Schulordnung für die Grundschule, die Regelschule, die Gemeinschaftsschule, das Gymnasium und die Gesamtschule, der Thüringer Schulordnung für das berufliche Gymnasium sowie der Thüringer Kollegordnung vertritt der Flüchtlingsrat Thüringen e.V. folgende Positionen:
§ 47 Abs.6 Thüringer Schulordnung
Der Flüchtlingsrat Thüringen e.V. begrüßt die Absicht des Thüringer Ministeriums für Bildung, Jugend und Sport, eine Flexibilisierung in der Einstellung von Lehrkräften für die Deutschsprachförderung zu erreichen. Gleichzeitig sehen wir die Gefahr, dass ein Erfüllen der Schulpflicht durch den Besuch des Unterrichts im Fach „Deutsch als Zweitsprache“ zu einem
übermäßig langen Verweilen in den sogenannten DAZ-Klassen führt. Wie bereits in vorangehenden Stellungnahmen fordert der Flüchtlingsrat Thüringen auch in Bezug auf die Änderung in § 47 Abs. 6 Thüringer Schulordnung, dass ein zügiger, an den individuellen Bedarfen der Schüler*innen orientierter Übergang aus den „Vorschalt-“ oder „DAZ-Klassen“, in den regulären Unterricht stets gewährleistet werden muss.
§135a Thüringer Schulordnung „Sprachfeststellprüfung“
Der Flüchtlingsrat Thüringen e.V. begrüßt ausdrücklich die neue Regelung zur Möglichkeit der Anerkennung der Herkunfts- bzw. Muttersprache von Schüler*innen nichtdeutscher Herkunftssprache als zweite Pflichtfremdsprache im Gymnasium. Dies entspricht den entsprechenden Regelungen des Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 10. Mai 2001. Aus Perspektive des Flüchtlingsrats wirft die Formulierung des § 135a einige Fragen auf und bedarf einer Konkretisierung:
a) Es muss sichergestellt werden, dass Schüler*innen und ihre Sorgeberechtigten (nicht nur Eltern) alle notwendigen Informationen zur Möglichkeit der Anerkennung der zweiten Pflichtfremdsprache inklusive des dazu nötigen Antragsformulars erhalten. Die offene Frage ist: Wie wird dies passieren? Hier ist es aus unserer Sicht notwendig entsprechendes Informationsmaterial in der Herkunftssprache für die Schüler*innen und ihre Sorgeberechtigten zu erarbeiten und eine Weiterleitung über Schulträger und die Schulen entsprechend anzuordnen.
b) Voraussetzung dafür, die zweite Pflichtfremdsprache durch die eigene Muttersprache zu ersetzen, ist lauf Entwurf eine Sprachfeststellungsprüfung, die zum Ende eines Schuljahres durchgeführt wird. Der Verordnungsentwurf bleibt an dieser Stelle zu wage wenn er ausführt, dass die Sprachfeststellungsprüfung mit der Einschränkung durchgeführt wird: „(…) soweit es organisatorisch und personell möglich ist“. Es muss grundsätzlich für alle Schüler*innen gewährleistet sein, dass eine Sprachfeststellungsprüfung auf Antrag zeitnah ablegen werden kann.
Entsprechende personelle, finanzielle und organisatorische Mittel sind grundsätzlich vorzuhalten und nicht nur „nach Möglichkeit“. Zudem soll bei Vorliegen von Schulzeugnissen aus dem Herkunftsland auf eine Sprachfeststellprüfung verzichtet werden, da dieser Nachweis die Kenntnis der Sprache in Wort und Schrift hinreichend belegt.
c) Zur Ausgestaltung der Sprachfeststellungsprüfung werfen die Ausführungen in der Begründung der Verordnung die Frage auf, wer genau neben der Lehrkraft mit Lehrbefähigung für eine moderne Fremdsprache die Prüfung in der Herkunftssprache abnimmt, bzw. welche Voraussetzungen und Qualifikationen diese Person bzw. der/die Prüfer*in mit sich bringen muss und wer diese überprüft. Hier ist eine entsprechende Konkretisierung notwendig. Um eine qualitativ hochwertige Prüfung zu ermöglichen, erscheint es aus Sicht des Flüchtlingsrat Thüringen e.V.
notwendig, die Sprachfeststellungsprüfung von vereidigten Dolmetscher*innen/Übersetzer*innen durchführen zu lassen. Eine nicht bestandene Sprachfeststellprüfung soll wiederholt werden
können, besonders dann wenn die Verbesserung der Note für den Abschluss oder die angestrebte Berechtigung erforderlich ist.
d) Auch bleibt die Frage offen, welche Angebote gibt es für Schüler*innen, die von der zweiten Pflichtfremdsprache befreit sind, anstelle der Unterrichtseinheiten in der zweiten Fremdsprache? Kann in dieser Zeit individuell abgestimmter Förderunterricht stattfinden?
e) Die Herkunftssprache kann laut Entwurf nur für Seiteneinsteiger*innen und nur für Schüler*innen, die in die Klassen 7 bis 10 des Gymnasiums aufgenommen werden, die zweite Pflichtfremdsprache ersetzen. In der Begründung zur Verordnung wird davon ausgegangen, dass ein*e Schüler*in nichtdeutscher Herkunftssprache bei Einstieg in Klassenstufe 6 den Lehrstoff in der zweiten Pflichtfremdsprache aus Klassenstufe 5, also eines gesamten Schuljahres aufholen kann. Hier ist zu hinterfragen: Wie wird dies sichergestellt - zumal die betreffenden Schüler*innen bereits zwei weitere Fremdsprachen (Deutsch und Englisch) erlernen müssen?
f) Zudem wird in der Begründung zur Verordnung festgestellt, dass ein Ersetzen der zweiten Pflichtfremdsprache mit Eintritt in die gymnasiale Oberstufe aufgrund der dann herrschenden Belegungspflicht nicht mehr möglich sei. Es wird darauf verwiesen, dass mit Klassenstufe 11 die Möglichkeit besteht, in eine neue Pflichtfremdsprache einzusteigen. Wie kann, besonders unter Verweis auf § 79 Thüringer Schulordnung, sichergestellt werden, dass entsprechende Angebote zum Neueinstieg in eine zweite Pflichtfremdsprache auch flächendeckend vorgehalten werden können? Was passiert, wenn dies nicht der Fall ist und lediglich die bestehenden Fremdsprachangebote aus den vorangehenden Klassenstufen weitergeführt werden? Aufgrund dieser absehbaren Hürden in der Umsetzung der vorgeschlagenen Regelung in §135a Thüringer Schulordnung, mit ggf. weitreichenden negativen Folgen für die Betroffenen, plädiert der Flüchtlingsrat Thüringen e.V. für eine Anerkennung der Herkunftssprache als grundsätzlichen Ersatz für die zweite Pflichtfremdsprache für alle Klassenstufen des Gymnasiums. Zusätzlich zu den behandelten gesetzlichen Änderungen sieht der Flüchtlingsrat Thüringen e.V. dringenden Handlungsbedarf hinsichtlich einer Öffnung der Thüringen Kollegs für Geflüchtete. Dies hat nicht zuletzt unsere Bildungsumfrage von Februar/März dieses Jahres gezeigt. Die bevorstehende Verordnung zur Änderung der entsprechenden gesetzlichen Rahmenbedingungen sollte diese Notwendigkeit berücksichtigen und entsprechende Änderungen vornehmen.
Konkret fordert der Flüchtlingsrat:
- Eine Änderung der Aufnahmevoraussetzungen vor allem hinsichtlich des in §7 ThürKollegO geforderten Berufsabschlusses oder der dreijährigen Berufstätigkeit. Viele Geflüchtete, die ihren Bildungsweg in Deutschland fortsetzen möchten scheitern an dieser Zulassungsvoraussetzung, da entweder die entsprechenden Nachweise fehlen oder nicht erbracht werden können. Hier müssen Alternativen zur üblichen Nachweiserbringung geschaffen werden. Diese können bspw. über eine detaillierte Beschreibung der Berufstätigkeit/Berufsabschluss im Herkunftsland in Kombination mit einer eidesstattlichen Erklärung ermöglicht werden. Ähnlich der in § 7 Abs. 2 festgelegten Möglichkeit der Anrechnung der Führung eines Familienaushalts auf die Zeit der Berufstätigkeit, muss es auch für Geflüchtete möglich sein geschaffen werden.
- Die Anerkennungsverfahren von Schulzeugnissen aus dem Herkunftsland - bspw. um einen gleichwertigen Realschulabschluss vorlegen zu können - dauern erfahrungsgemäß sehr lange. Um eine zügige Fortsetzung der Bildungskarriere für Geflüchtete zu ermöglichen, sollte eine Zulassung zum Vorkurs am Thüringen Kolleg auch dann möglich sein, wenn das Anerkennungsverfahren noch im Ministerium anhängig ist.
- Es müssen auch an den Thüringen Kollegs entsprechende Voraussetzungen für eine individuelle Deutschförderung geschaffen werden, damit ein erfolgreicher Besuch des Kollegs gewährleistet und ein Nachteilsausgleich für Geflüchtete ermöglicht wird. Das kann durch die Schaffung spezieller Vorbereitungskurse für erwachsene Zuwanderer*innen, wie an anderen Kollegs in Deutschland (Bsp. Westfalen-Kolleg Dortmund, Bergisches Kolleg Wuppertal) sichergestellt werden.
- § 14 ThürKollegO sieht vor, dass außerschulisch erworbene Fremdsprachkenntnisse vom zuständigen Ministerium bzw. Schulamt als zweite Fremdsprache anerkannt werden können. Geflüchtete Schüler*innen sollten diesen Nachweis durch vorhandenen Schulzeugnissen aus dem Herkunftsland belegen können. Sollten diese Nachweise fehlen, bietet sich eine Sprachfeststellungsprüfung, wie sie für das Gymnasium vorgesehen ist, an.
Um den externen Erwerb von Schulabschlüssen (Haupt- und Realschule) für Geflüchtete zu erleichtern (§§ 70 Abs. 2, 71 Abs. 2 ThürSchulO), soll auch hier die Herkunfts- bzw. Muttersprache als Fremdsprache anerkannt werden. Das Feststellungsverfahren sollte sich dabei wie hinsichtlich des § 14 ThürKollegO sowie in Punkt c) ausgeführt gestalten.
Abschließend muss erneut betont werden, dass es dringend einer grundsätzlichen Öffnung aller Schulformen in Thüringen für junge Geflüchtete bedarf. Dieser Prozess muss einhergehen mit einem Abrücken von der bislang äußerst restriktiven Auslegung der Vollzeitschulpflicht. Im Schreiben des Thüringer Ministeriums für Bildung, Jugend und Sport vom 22.06.2017 an
Schulleiter*innen und Schulämter, wird erneut deutlich gemacht, dass sich die Vollzeitschulpflicht, in der Interpretation des Ministeriums, nicht an Schulbesuchsjahren, sondern an der Altersgrenze von 16 Jahren bemisst. Damit wird minderjährigen Geflüchteten, die diese Altersgrenze überschreiten kategorisch der Zugang zu allgemeinbildenden Schulen verwehrt. Der
Flüchtlingsrat Thüringen e.V. sieht darin eine Beschneidung des Rechts auf Bildung, die weder mit dem Thüringer Schulgesetz noch mit der UN Kinderrechtskonvention sowie der EU-Aufnahmerichtlinie in Einklang steht. Hier muss dringend ein Kurswechsel stattfinden und die Aufnahme von über 16jährigen in allgemeinbildende Schulen zur Regel werden.