Stellungnahme des Flüchtlingsrats Niedersachsen zur anhaltenden Debatte um sexualisierte Gewalt und zur Ethnisierung von strukturellen Missständen
Dienstag - 12.01.2016
1. Die Übergriffe gegen Frauen am Silvestertag in Köln, Hamburg und anderen Städten stellen exzessive Formen sexualisierter Gewalt dar. Diese Taten müssen umfassend aufgeklärt und die verschiedenen Gesetzeslücken, welche beim Schutz von Betroffenen vor sexualisierter Gewalt bestehen, müssen geschlossen werden. Zwar ist die Thematisierung, Ächtung und Sanktionierung von offener sexualisierter Gewalt und Gewalt gegen Frauen, Lesben und Transpersonen in Deutschland dank einer Frauenbewegung, die auf internationale feministische Kämpfe von Schwarzen Frauen, Women of Color, Migrantinnen und Flüchtlingsfrauen aufbaute, enttabuisiert und öffentlich zur Diskussion gestellt worden, doch werden die Effektivität und die Wirksamkeit gewisser Schutznormen und Forderungen nach wie vor in Frage gestellt.
2. Zur aktuellen Problematik gehört, dass sich unter den Tätern in der Silvesternacht – neben deutschen Männern – vermutlich auch viele Flüchtlinge aus arabischen Herkunftsländern befanden. Nicht nur deutsche Frauen, sondern auch migrantische und geflüchtete Frauen sind Leidtragende männlicher Gewalt. Sexismus und sexualisierte Gewalt sind ein fortwährendes Problem unserer Gesellschaft, das uns alle betrifft. Aus diesem Grund darf der Einsatz gegen Sexismus und die Weiterentwicklung institutioneller Strukturen zum Schutz von Betroffenen nicht von der Tagesordnung verschwinden.
3. Was zunächst nottut, ist eine Aufklärung der Ereignisse in der Silvesternacht und eine nüchterne Analyse: Wer waren die Täter, wie waren sie organisiert, welche Straftatbestände waren erfüllt, und warum konnte oder wollte die Polizei zwar nach Lage der Dinge die Personalien von mehr als 100 Personen aufnehmen, den Anzeigen der betroffenen Frauen aber nicht nachgehen und Täter identifizieren? Derzeit wird das öffentliche Drama beherrscht von einem Spiel mit Ängsten und geschmacklosen Instrumentalisierungen. Um die Relationen wiederherzustellen, scheint es nötig, auf die Statistik zu verweisen. Dem Lagebericht des BKA zufolge begehen Flüchtlinge nicht mehr Straftaten als Deutsche (Zahlen Januar – September 2015). Der Anteil von Sexualstraftaten liegt danach unter 1%. Das entschuldigt die Straftaten in der Silvesternacht nicht. Die Aufklärung ist aber dringend notwendig, um die pauschale Stigmatisierung von Flüchtlingen in den Medien in Frage zu stellen, in denen sexualisierte Gewalt und Gewalt gegen Frauen nur dann thematisiert wird, wenn die Täter die vermeintlich „Anderen“ sind, also all diejenigen, die rechte Populist_innen als „nicht deutsch“ verstehen.
4. Dabei sprechen die Statistiken eine andere Sprache. Bei jedem deutschen Großereignis wird sexualisierte Gewalt und Gewalt gegen Frauen ausgeübt. Jedes Jahr werden auf dem Oktoberfest in München im Schnitt zehn Vergewaltigungen polizeilich erfasst; die Dunkelziffer wird auf 200 geschätzt. Im Karneval kommt es immer wieder zu massiven Übergriffen und Verbrechen – z.B. mit verbaler oder körperlicher Gewalt oder Hilfsmitteln wie k.-o.-Tropfen. Zahlen des Bundesfamilienministeriums zeigen: Knapp 60 Prozent aller Frauen, die in Deutschland leben, wurden bereits sexuell belästigt, jede siebte hat strafrechtlich relevante Formen sexueller Gewalt erfahren (bei Transpersonen ist die Zahl deutlich höher). Diese Zahlen sind schon lange bekannt, kommen aber in der Debatte kaum vor. Es muss zu denken geben, wenn jetzt ausgerechnet solche Politiker, die eben noch ein konservatives Geschlechterrollenbild und Heim und Herd propagiert haben, die Rechte der Frauen entdecken und diese für ihre politischen Zwecke instrumentalisieren.
5. Wir begrüßen die Diskussion um Sexismus und sexualisierte Gewalt, denn sie ist unabdingbar und von höchster Priorität, doch wir lehnen es ab, sie zur Rechtfertigung für rassistische Hetze zu missbrauchen. Wenn das aktuelle Fokus-Titelblatt eine weiße nackte Frau mit schwarzen Handabdrücken veröffentlicht, dann stellt das genau die Form der Ethnisierung einer gesellschaftlichen Problemlage dar, die wir für falsch und gefährlich halten. Es ist für alle schädlich, wenn feministische Anliegen von Populist_innen instrumentalisiert werden, um gegen einzelne Bevölkerungsgruppen zu hetzen, wie das aktuell in der Debatte um die Silvesternacht getan wird. Zum einen, weil das rassistische Narrativ ’schwarzer Mann vergewaltigt weiße Frau‘ die momentane Hetze gegen nicht-deutsche Männer (und Deutsche of Color) verfestigt und zudem migrantische und geflüchtete Betroffene aus der Diskussion ausblendet. Zum anderen, weil diese Debatte den Betroffenen von sexualisierter Gewalt schadet, da sie eine wirkliche Auseinandersetzung über Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen verhindert.
6. Repression wird beschworen, wo inhaltliche Konzepte nötig wären. Denn das ist doch die Frage, die letztlich beantwortet werden muss, auch und zuvorderst von der Politik: Wie kann eine gleichberechtigte Teilhabe von Frauen in unserer Gesellschaft gewährleistet werden? Was müssen wir tun, damit auch Flüchtlingsfrauen, ob in Notunterkünften des Landes oder in kommunalen Unterkünften, institutionell geschützt und systematisch gefördert werden? Wie erreichen wir, dass Frauen in Deutschland unabhängig von ihrer Nationalität und ethnischen Selbstzuordnung nicht diskriminiert und benachteiligt werden? Statt die Ereignisse in Köln zum Anlass zu nehmen, um über verbesserte Schutzkonzepte und die Gewährleistung von Chancengleichheit nachzudenken, wird Sexismus und Gewalt zum Problem der Migranten erklärt. Statt dafür zu sorgen, dass der Schutz von allen Frauen institutionalisiert, das bestehende Recht konsequent angewandt und Gewalttaten gegen Frauen systematisch verfolgt werden, gefällt sich die Politik v.a. darin, wie schon in unzähligen Novellierungen zuvor das Ausländerrecht zu verschärfen und eine härtere Gangart gegen Flüchtlinge zu fordern.
7. „Null Toleranz gegenüber kriminellen Ausländern“ – das ist die Botschaft, die große und kleine Parteien seit Tagen in Mikrofone sprechen und Notizblöcke diktieren: „Haft in der Heimat“ (Sigmar Gabriel, SPD), „abschieben, bevor das Asylverfahren zu Ende ist“ (Joachim Herrmann, CSU), „schärfere Gesetze“ (Volker Kauder, CDU), „Hürden für die Abschiebung senken“ (Christian Lindner, FDP), „Schusswaffen gegen diese Horden“ (Frank Oesterhelweg, MdL CDU). Derartige Aussagen steigern die ohnehin rollende rassistische Stimmungsmache ins Unerträgliche, verorten sexistische Gesellschaftsstrukturen sowie sexualisierte Gewalttaten außerhalb der deutschen Gesellschaft und sind populistisch.
8. Gerade weil wir uns in Deutschland den Menschenrechten verpflichtet fühlen und allen Flüchtlingen eine Orientierung an Menschenrechten abverlangen, müssen wir sie auch beachten, wenn es um Entscheidungen über eine Ausweisung und Abschiebung straffällig gewordener Flüchtlinge geht. Das scheinen manche der oben zitierten Politiker nicht begriffen zu haben oder wahrhaben zu wollen: Ein nach der Genfer Konvention anerkannter Flüchtling darf nicht einfach in ein Land expediert werden, in dem er politische Verfolgung befürchten muss. Auch ein straffälliger Flüchtling darf gemäß der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht in ein Land abgeschoben werden, in dem ihm Folter, die Todesstrafe oder eine sonstige menschenrechtswidrige Behandlung droht. Bei allen Entscheidungen über ein Aufenthaltsrecht sind die persönlichen Interessen und Bindungen des Betroffenen gegen das öffentliche Interesse abzuwägen. Je länger ein Flüchtling in Deutschland lebt und je stärker seine Verwurzelung in Deutschland ist, desto größer ist das persönliche Interesse zu gewichten. Hau-Ruck-Aktionen und Schnellschüsse kann es in einem demokratischen Rechtsstaat nicht geben.
9. Vollkommen indiskutabel sind die Forderungen des Landtagsabgeordneten Oesterhelweg zum Einsatz von Schusswaffen. Schusswaffengebrauch ist bereits jetzt (im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes) zulässig, wenn der Einsatz angemessen, erforderlich und geeignet ist. Eine solche Form der staatlichen Gewaltanwendung ist an strikte Voraussetzungen gebunden und besonders problematisch, weil der Moment, in dem eine Ermessenentscheidung vom Polizeibeamten getroffen wird, geprägt ist von Angst, akuter Gefahr und Unübersichtlichkeit der Situation, und weil der Einsatz besonders schwerwiegende Folgen haben kann. Wenn ein Politiker aus dem niedersächsischen Landtag sich aufgerufen fühlt, den Polizeibeamten zur Bekämpfung der von ihm beklagten „Horden“ quasi zuzurufen „schieß doch!!“, dann ist das Anstiftung zu rassistischer Gewalt. Hier zielt einer auf die Grundfesten unserer Verfassung. Etliche Beispiele von Misshandlungs- und Todesfällen in Polizeihaft zeugen davon, dass gerade auch die staatliche Gewaltanwendung einer strikten menschenrechtlichen Kontrolle unterworfen sein muss.