8. September 2021
Ob Afghanistan oder Moria: Aufnahmeprogramme durchsetzen! Klage jetzt!
Eine kritische Zwischenbilanz der Seebrücke Erfurt
"Horst Seehofer hat es schon wieder getan: Eine Absage an ein Thüringer Landesaufnahmeprogramm. Dieses Mal entscheidet er sich dafür, noch mehr Menschen in Afghanistan in Lebensgefahr zurückzulassen.¹
Auch jährt sich heute zum ersten Mal der große Brand von Moria.² Damals wie heute spielt es für den Bundesinnenminister keine Rolle, ob Menschen Schutz suchen, weil sie - wie vor einem Jahr - in den verbrannten Überresten des Elendslagers stehen oder weil sie - wie jetzt - von den islamistischen Taliban verfolgt und bedroht werden, die in Afghanistan die Macht ergriffen haben. Hauptsache, Seehofer kann seinen gewohnten Kurs fahren: Flucht und Migration kontrollieren und am liebsten ganz verhindern. Diese Politik ist untragbar, denn sie ist tödlich!
Dagegen muss Thüringen handeln! Die rot-rot-grüne Landesregierung muss sich für schutzsuchende Menschen und die Durchsetzung seiner beschlossenen Landesaufnahmeprogramme³ einsetzen.
Nachdem wir monatelang für eine #KlageJetzt, für ein Thüringer Landesaufnahmeprogramm für 500 geflüchtete Menschen aus den griechischen Lagern gekämpft hatten, schafften wir es im Juli 2021 mit diesem Anliegen bis in den Petitionsausschuss des Thüringer Landtags. Dass nun auch das Thüringer Landesaufnahmeprogramm für Menschen aus Afghanistan ohne mit der Wimper zu zucken abgelehnt wurde, verdeutlicht erneut den verheerenden und menschenverachtenden Kurs des Bundes in Sachen Flucht. Das ist so nicht hinzunehmen - es besteht akuter Handlungsbedarf.
Deshalb ziehen wir nun eine Zwischenbilanz zu dem langwierigen Prozess um das letzte blockierte Thüringer Landesaufnahmeprogramm und stellen klare Forderungen an R2G. Davon lässt sich vieles auch auf das jetzt verhinderte Landesaufnahmeprogramm für Schutzsuchende aus Afghanistan übertragen:
EINE ZWISCHENBILANZ. ODER: IMMER NOCH KLAGE JETZT!
Vor mittlerweile über einem Jahr beschloss die Landesregierung von Thüringen ein Landesaufnahmeprogramm (LAP) für Geflüchtete auf den griechischen Inseln und versprach, bis 2022 500 Menschen aufzunehmen. Horst Seehofer und sein Bundesministerium für Inneres (BMI) blockierten diesen Beschluss jedoch. Gleiches ist im Land Berlin passiert, welches ebenfalls ein LAP vorbereitet hatte. Das Land Berlin entschied daraufhin, gegen das BMI zu klagen. Das hat das Land Thüringen, ungeachtet der sich stetig verschlimmernden Lage für geflüchtete Menschen in Lagern wie Moria und dem, nach dem großen Brand von Moria provisorisch hochgezogenen Lager, Kara Tepe, bis heute nicht geschafft.
Angesichts dessen forderten 18 Thüringer zivilgesellschaftliche Organisationen und über 1500 Unterzeichner:innen mit einer Petition das Land Thüringen auf, sich endlich der Klage Berlins anzuschließen. Durch den Erfolg der Petition kam es zu einer Anhörung beim Petitionsausschuss des Thüringer Landtags am 08.07.2021. Als Vertretung der Petent:innen sprachen der Flüchtlingsrat Thüringen und die Seebrücke Erfurt vor. Sie wurden unterstützt von einem rechtspolitischen Referenten von Pro Asyl, Andreas Meyerhöfer, der Rechtsexpertin Helene Heuser (Autorin des Rechtsgutachtens "Aufnahme von Schutzsuchenden durch die Bundesländer"), sowie den Rechtsanwält:innen Dr. Roya Sangi und Dr. Ulrich Karpenstein der Kanzlei "Redeker Sellner Dahs" in Berlin.
Durch die Einschätzungen der geladenen Expert:innen wurde sehr deutlich: Es ist von immenser Bedeutung, dass auch das Land Thüringen endlich Klage einreicht. Die Situation auf den griechischen Inseln, aber auch auf dem griechischen Festland, ist weiterhin unmenschlich und spitzt sich zu. In den Lagern gibt es kein sauberes Trinkwasser, schlechte bis keine medizinische Versorgung, kaum sanitäre Einrichtungen und auch die Essensversorgung ist unzureichend. Kinder haben keinen Zugang zu Bildung und es kommt regelmäßig zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. "Im Prinzip sind das nichts anderes als Slums auf europäischem Boden", so Meyerhöfer.
Diese Situation ist nicht hinnehmbar! Thüringen hat sich im Jahr 2019 zum "Sicheren Hafen" erklärt und sollte hierzu mit allen Konsequenzen stehen. Dazu gehört auch die Durchsetzung des verabschiedeten LAP. Denn: Das Aufenthaltsgesetz der Bundesrepublik ermächtigt die Bundesländer in Paragraph 23 eindeutig dazu, aus humanitären Gründen und auf Grundlage ihres eigenen Ermessens LAPs zu beschließen und durchzuführen. Hierzu benötigt es lediglich die erklärte Zustimmung durch das Bundesinnenministerium. Solche LAPs laufen seit Jahren, so gibt bzw. gab es das Sonderkontingent für Opfer traumatisierender Gewalt aus dem Nordirak und das Aufnahmeprogramm für Familiennachzug von syrischen Geflüchteten.
Der einzige Grund, den der Bundesinnenminister nach Gesetzestext zur Verweigerung eines LAP vorbringen darf, ist eine Gefährdung der Bundeseinheitlichkeit. Laut Einschätzungen der juristischen Expert:innen ist dies hier nicht gegeben, da der Bund bereits 2020 ein eigenes Aufnahmeprogramm mit vergleichbarem Ziel gestartet hat. Stattdessen wird argumentiert, dass hier "versteckte Außenpolitik" betrieben werden würde. Dies ist laut den juristischen Expert:innen nach deutschem Recht schlichtweg falsch: Hilfe aus humanitären Gründen ist Hilfe aus humanitären Gründen - und damit unabhängig von Außenpolitik. Der Kerngedanke des §23 Aufenthaltsgesetz ist das Ermöglichen von Hilfe - unabhängig von weiteren außenpolitischen Verhandlungen und Auseinandersetzungen.
Nicht nur ist die Absage, die Seehofer Thüringen und Berlin erteilt hat, in unseren Augen ungerechtfertigt. Darüber hinaus - so die juristische Expertise - gibt es erheblichen Klärungsbedarf, ob der Bundesinnenminister die Entscheidung für einen so starken Eingriff in die Selbstbestimmung der Bundesländer überhaupt ohne Rücksprache mit dem ganzen Kabinett der Bundesregierung treffen darf.
Während Berlin also gegen die Blockade des Bundesinnenministers klagt, bleibt es in Thüringen still. Dabei gilt: Wenn das Land Thüringen sein Recht nicht einklagt, wird der Eindruck entstehen, Berlin stehe allein mit seiner Rechtsauffassung bzgl. der Auslegung des Aufenthaltsgesetzes und der Eigenständigkeit der Länder da. Der Bundesinnenminister hat die Befugnis der Länder zur eigenständigen Landesaufnahme mit seiner Blockadehaltung sehr grundsätzlich in Frage gestellt. Dieses Recht der Länder muss aber vehement von mehreren Seiten eingeklagt werden! Am Ende bliebe bei ausbleibender Klage zudem der bittere Eindruck, dass das Landesaufnahmeprogramm für Menschen von den griechischen Inseln ein rein symbolpolitischer Akt Thüringens gewesen ist. Das Ausharren und Warten auf eine "europäische Lösung", wie sie von rechts gerne beschworen wird, ist aber eben keine Lösung.
Thüringen bleiben nun drei Möglichkeiten: Es kann sich der Klage Berlins anschließen, was die Dringlichkeit des Anliegens verdeutlichen würde. Alternativ wäre auch eine eigene Klage möglich, bei welcher allerdings unbedingt eine Solidarisierung mit der Klage Berlins stattfinden sollte. Die dritte Möglichkeit ist die schlimmste und in unseren Augen absolut nicht akzeptabel: Thüringen könnte nichts tun - und somit zulassen, dass Menschen weiterhin in Elendslagern leben müssen und die Kompetenzen des Landes unwidersprochen beschnitten werden.
Der gesamte Prozess um das Landesaufnahmeprogramm, die Blockade und die mögliche Klage dauert nun schon zu lange und noch immer ist es zu keiner Entscheidung gekommen. Schlimmer noch: erst durch die Petition aus der Zivilgesellschaft heraus ist das Thema wieder auf die parlamentarische Tagesordnung gelangt. Nachdem sich der Petitionsausschuss nun die Argumente der Petent:innen angehört hat, ist jedoch wieder nicht vor Ende September mit der Entscheidung zu rechnen, ob das Thema (dann wiederum einige Zeit später) noch einmal im Landtag diskutiert werden sollte. Dieser Prozess ist, vor allem gemessen an der Dringlichkeit der Evakuierung der Lager, entschieden zu langsam!
Eine rot-rot-grüne Landesregierung, die sich wieder und wieder verbal und auf dem Papier zu Solidarität mit Geflüchteten bekennt, sollte alles daran setzen, schutzsuchende Menschen aus Lagern zu evakuieren - statt in Untätigkeit zu verharren. Es gleicht einer Farce, als Regierende die eigens erklärte Verantwortung erst zu übernehmen, wenn das Nicht-Handeln auffällt und ihnen mal wieder wer in den Arsch tritt. Also los: Handeln! Und dieser Appell geht an alle Regierungsfraktionen.
Wir fordern weiterhin:
Bewegungsfreiheit für alle Menschen!
Kein Mensch darf in einem Lager leben müssen!
Landesaufnahmeprogramme umsetzen!
Thüringen muss sich mit der Klage Berlins solidarisch zeigen und sich dieser anschließen. Vor allem aus humanitären Gründen, aber auch aus juristischen ist die Klage von hoher Bedeutung und könnte, wie während der Ausschusssitzungen durch die Jurist:innen eindrucksvoll gezeigt, Erfolg haben."