Am 11.2.2017 fanden bundesweit in über 22 Städten Proteste gegen die Abschiebepolitik der Bundesregierung statt. Die beteiligten Organisationen und Initiativen formulierten einen offenen Brief an den Bundesinnenminister Thomas De Maizière. Der Brief und die damit verbundenen Forderungen wurden von Engagierten einiger Bundesländer am Vormittag des 11.2. an das Bundesinnenministerium übergeben. Den Brief und die Unterzeichner*innenliste haben wir hier veröffentlicht:
Hamburg, 11.02.2017
Offener Brief an den Bundesinnenminister
Thomas De Maizière
Afghanistan ist kein sicheres Land!
Keine Abschiebung nach Afghanistan!
Sehr geehrter Herr De Maizière,
am 14. Dezember 2016 wurden 34 Menschen aus Deutschland nach Afghanistan abgeschoben. Am 23. Januar 2017 wurden erneut 26 Menschen aus Deutschland nach Afghanistan abgeschoben.
Afghanistan gilt als eines der gefährlichsten Länder weltweit. Sie als verantwortlicher Minister aber erklären, Teile Afghanistans seien „sicher“ und begründen damit die Legitimität der Sammelabschiebungen. Wir fragen Sie:
Kann man von Sicherheit sprechen, wenn das Auswärtige Amt Reisewarnungen ausgibt?
Kann man von Sicherheit sprechen, wenn weite Teile der ländlichen Gebiete von terroristischen Organisationen wie dem sogenannten Islamischen Staat und den Taliban beherrscht werden?
Kann man von Sicherheit sprechen, wenn fast täglich Bomben in zivilen Gebieten explodieren?
Kann man Menschen die Schutzbedürftigkeit absprechen, die von dort fliehen?
Nein! - Afghanistan ist kein sicheres Land!
In den vermeintlich sicheren Städten Kabul und Masar-e Sharif kommt es regelmäßig zu Attentaten und Bombendetonationen mit vielen Toten und Verletzten. Das Bombenattentat auf das deutsche Generalkonsulat in Masar-e Sharif Ende 2016 ist nur eines von vielen Beispielen. Die Anzahl der zivilen Opfer ist in den letzten Jahren kontinuierlich angestiegen, so UNHCR und UNAMA.
Rückkehrerinnen und Rückkehrer leben in Zeltlagern und Slums, ohne Perspektive, ohne Zugang zu Nahrung, sauberem Trinkwasser oder medizinischer Versorgung, so die Einschätzung der Welthungerhilfe. Sie harren dort dicht gedrängt aus, im Winter droht ihnen bei eisigen Temperaturen der Erfrierungstod.
Der UNHCR-Bericht vom 22.12.2016 beschreibt eine dramatische Verschlechterung der Sicherheitslage in den letzten Monaten. Er erteilt der generellen Vermutung der Existenz “interner Schutzalternativen” eine klare Absage: Es heißt eindeutig, dass aufgrund der volatilen Lage in Afghanistan nicht zwischen “sicheren” und “unsicheren” Regionen unterschieden werden kann. Die Situation in der Hauptstadt Kabul, die auch in vorherigen Lagebeschreibungen schon als schrecklich bezeichnet wurde, verschlimmere sich stetig. Auch für die anderen Regionen (Herat, Bamyan, Panjshir), bei denen vonseiten der Bundesregierung um eine Lageeinschätzung gebeten wurde, zeigt UNHCR ein insgesamt desaströses Bild. So wird beispielsweise für Bamyan darauf hingewiesen, dass u.a. die beiden Hauptrouten von Kabul aus als unsicher einzustufen sind. Der jüngste UNAMA-Bericht über das Jahr 2016 bestätigt die Einschätzungen des UNHCR.
Aufgrund dieser Situation in allen Teilen des Landes müssen Sie den Schutzbedarf von Afghaninnen und Afghanen anerkennen. Sie dürfen keine Menschen in ein Land zurückschicken, in dem Krieg, Terror und existentielle Not und Gefährdung herrschen.
Sie selbst, Herr De Maizière, bewegen sich in Kabul nur in Schutzkleidung und gepanzerten Fahrzeugen. Sie selbst zeigen uns, wie unsicher es dort ist.
Unter solchen Bedingungen ist kein sicheres, menschenwürdiges Leben möglich.
Deshalb haben sich mehrere Bundesländer vehement gegen eine Beteiligung an dieser Praxis ausgesprochen.
Wie erklären Sie trotz der stetigen Verschlechterung der Sicherheitslage eine um ca. 17 % niedrigere Schutzrate für Afghanen in 2016 im Vergleich zu 2015?
Wie erklären Sie solche Sammelabschiebeaktionen?
Es gibt nur eine plausible Erklärung:
Afghanen werden aus politischem Kalkül abgeschoben. Diese Aktionen sind Teil einer Symbolpolitik, die rechte Populisten beruhigen und Schutzsuchende abschrecken soll.
Diese Symbolpolitik ist auf das Schärfste zu verurteilen und ist schon seit Anfang des letzten Jahrhunderts überholt. Wir sind heute weiter! Heute dürfen politische Interessen nicht mehr auf dem Rücken Unschuldiger ausgetragen werden. Es geht darum, Menschen die Chance und die Motivation zu geben, sich ein neues Leben aufzubauen. Es geht nicht darum, zwischen “guten” und “schlechten” Geflüchteten zu unterschieden. Es geht darum, Menschen mit einem berechtigten Schutzbedürfnis, diesen Schutz zu gewähren und ihre Bemühungen Wert zu schätzen. Die Bundesrepublik ist ein weltoffenes, reiches Land. Wir können es uns leisten Menschen, die vor Krieg und Verfolgung fliehen, Schutz und eine neue Perspektive zu bieten. Tag für Tag arbeiten Geflüchtete wie Einheimische an einer gelingenden Integration. Ehrenamtliche, Behördenmitarbeiter, Kirchenvertreter und viele andere setzen sich für ein offenes Land ein.
Mit den im Dezember 2016 aufgenommenen Sammelabschiebungen nach Afghanistan führen Sie, Herr De Maizière, auch das Engagement und die Bemühungen der ehren- und hauptamtlichen Helfer ad absurdum.
Afghanistan ist und bleibt kein sicheres Land. Statt sich um eine gelingende Integrationspolitik zu bemühen, werden Familien auseinandergerissen und Menschen in ein Land geschickt, in dem Krieg herrscht. In dem es keine Perspektiven gibt. Ein Land, aus dem diese Menschen zurecht aus Angst um ihr Leben geflohen sind.
Die aktuellen Abschiebungen sind deshalb schlicht menschenrechtswidrig. Wir beobachten mit Entsetzen, dass die Einhaltung rechtsstaatlicher Verfahren immer mehr der Angst vor Rechtspopulisten zum Opfer fällt.
Menschenrechte sind keine politische Verhandlungsmasse!
Herr de Maizière, wir rufen Sie auf, beenden Sie diese Politik. Erkennen Sie an, dass ein Schutzbedarf für Menschen besteht, die aus einem Land fliehen, in dem Krieg und Terror herrschen, und sich eine erzwungene Rückkehr dorthin verbietet. Werden Sie unserem modernen und offenen Land gerecht und sehen Sie in Zukunft davon ab, Menschen in eine unsichere Zukunft abzuschieben. Wir wollen in einem Land leben, in dem menschlich und tolerant miteinander umgegangen wird. In dem Menschen eine langfristige Perspektive haben. Wir fordern: keine Abschiebungen nach Afghanistan!
Unterzeichner*innen:
- Bündnis Hamburger Flüchtlingsinitiativen (BHFI)
- PRO ASYL
- Arbeitskreis Asyl Rheinland-Pfalz
- Bayrischer Flüchtlingsrat
- Flüchtlingsrat Baden-Württemberg
- Flüchtlingsrat Berlin
- Flüchtlingsrat Brandenburg
- Flüchtlingsrat Bremen
- Flüchtlingsrat Hamburg
- Flüchtlingsrat Niedersachsen
- Flüchtlingsrat Sachsen-Anhalt
- Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein
- Flüchtlingsrat Thüringen
- Flüchtlingsrat Nordrhein-Westphalen
- Hessischer Flüchtlingsrat
- Saarländischer Flüchtlingsrat
- Sächsischer Flüchtlingsrat
- Afghan Refugees Movement
- Aktionsbündnis gegen Abschiebehaft Eichstätt
- Aktionsbündnis Rhein Main gegen Abschiebung
- Antira_k Frankfurt
- Arbeitskreis Asyl Friedrichsdorf e.V.
- Augsburger Flüchtlingsrat
- BI Asyl Regensburg
- Flüchtlingshilfe ehemalige Voigtschule (Göttingen)
- Flüchtlingshilfe Weende-Schützenanger (Göttingen)
- Forschungsgesellschaft Flucht & Migration e.V.
- Für ein buntes Trier, gemeinsam gegen Rechts e.V.
- Hazara Kulturverein Hamburg e.V.
- Hindu Tempel und Afghanische Hindu Gemeinde e.V. (Hamburg)
- Initiative Willkommen Flüchtlinge am Klausberg e.V. (Göttingen)
- IWF Initiative (Initiative Willkommen Flüchtlinge)
- Kiel hilft Flüchtlingen
- Krisenberatung für Afghanische Flüchtlinge und Migranten in Hannover
- Lübecker Flüchtlingsforum e.V.
- Multikulturelle Zentrum Trier
- Netzwerk Afghanistan - Nicht sicher Mecklenburg-Vorpommern
- Noborderffm
- Refugee Law Clinic Hamburg
- Refugee Network Göttingen - Hilfe für Geflüchtete e.V.
- Regensburger PädagogInnen Ausbildung statt Abschiebungen
- Verein iranischer Flüchtlinge in Berlin e.V.
- Vernetzungstreffen der freiwilligen Initiativen zur Unterstützung von Geflüchteten (Göttingen)
- Yaar - Bildung, Kultur, Begegnung e.V. Afghanisches Kulturzentrum
- Zendegi - Keine Abschiebung nach Afghanistan!