Europäische Migrations- und Flüchtlingspolitik
Thüringen muss sich dafür einsetzen, dass die uneingeschränkte Wahrung der Menschenrechte und Rechtsgüter der Genfer Flüchtlingskonvention sowie der Zugang zu dieser Grundlage allen gesamteuropäischen Handelns ist.
Die Reform des Dublin-Systems
Die Überarbeitung des Dublin-Systems hält weiter an den Grundzügen fest, an denen Dublin III nachweislich gescheitert ist. Eine faire Verteilung achtet stattdessen die persönlichen Lebenslagen der schutzsuchenden Menschen (Familienverbände, Sprachkenntnisse, Krankheiten usw.). Vorhandene Bezüge von vielen Geflüchteten zu bestimmten Zielstaaten müssen daher berücksichtigt werden. Fristen, die den Übergang der Zuständigkeit zwischen den Ländern regeln, müssen beibehalten werden. Diese Fristen sichern den betroffenen Personen letztlich den Zugang zum Verfahren und vermeiden „refugees in orbit“. Dies sind schutzbedürftige Flüchtlinge, die keinen Zugang zum Flüchtlingsschutz haben: Im Staat, in dem sie sich aufhalten, wird ihnen das Asylverfahren verwehrt. In dem Staat, der laut Dublin-Verordnung für sie zuständig ist, finden sie keine menschenwürdigen Bedingungen, ein Überleben ist oft nicht gesichert.
Das Vorhaben, die Selbsteinrittsrechts-Klausel auf familiäre Konstellationen einzuschränken, ist nicht zu begrüßen. Gruppen- oder Länderbezogene Lösungen aus humanitären Gründen würden ausgeschlossen und die Flexibilität des Bundesamt für Migration und Flüchtlinge wäre weiter eingeschränkt.
Die Dublin-Reform sieht vor, dass zukünftig vor jeder Zuständigkeitsprüfung ein Zulässigkeitsverfahren stattzufinden hat. Hierbei wird festgestellt, ob ein Asylsuchender in einen „sicheren Drittstaat“ oder „ersten Asylstaat“ abgeschoben werden kann. Dabei soll die Vorrangigkeit der Abschiebung in den Drittstaat zwingend sein. Dadurch werden weitere Schutzvorschriften wie die Familienzusammenführung ausgehebelt. Mit dem Grundrecht auf Schutz der Familie, wie es in der Grundrechte-Charta verankert ist, ist dies nicht vereinbar.
Beim Minderjährigenschutz droht ebenso ein eklatanter Rückschritt. Die Abschiebung oder Rücküberführung von unbegleitet minderjährigen Flüchtlingen in andere als zuständig bestimmte Länder darf rechtlich auf keinen Fall betoniert werden. Hier würde letztlich die Jugendhilfe Beihelfer und Begleiter bei Abschiebungen von elternlosen Kindern und Jugendlichen in oftmals nicht Überleben-sichernde Bedingungen werden.
Auch vorgesehene Sanktionsmechanismen bei Weiterreise verkennen die enorm unterschiedlichen Lebensbedingungen für Flüchtlinge in den einzelnen europäischen Ländern.
Auf Bundes- und EU-Ebene muss sich der Freistaat für die Abschaffung des erwiesenen funktionsuntüchtigen Dublin-Systems einsetzen. Neue Regelungen müssen die Rechte und Interessen von Flüchtlingen fokussieren. Ein Verteilen und Verwahren von Menschen nach Quoten ist nicht realisierbar und wird auch zukünftig scheitern. Die Realität ist, dass Menschen fliehen, bis sie ausreichend Schutz und Perspektive erhalten. Das muss auch eine gesamteuropäische Asylpolitik verinnerlichen und gleiche Teilhabechancen sowie Qualitätsstandards ermöglichen.
Sichere Fluchtwege und Schutz der EU-Außengrenzen
Der von der europäischen Kommission vorgelegte Aktionsplan gegen Schleuser verkennt die ursächlichen Probleme. Flüchtlinge und Fluchthelfer werden weitestgehend illegalisiert und kriminalisiert. Solange es keine sicheren Fluchtwege und die garantierte Zuführung zu einem rechtsstaatlichen Asylverfahren gibt, wird es auch organisierte und teilweise skrupellose Schleuser geben. Die EU muss neben der Garantie der Genfer Flüchtlingskonvention auch für einen sicheren Zugang zu den sich aus ihr ergebenden Rechten sorgen. Kontingentlösungen reichen bisweilen nicht aus und Versprechungen zur Aufnahme und Verteilung wurden bisher regelmäßig nicht eingehalten. Die Europäische Migrationsagenda setzt den Fokus insbesondere auf Abwehrstrategien und verkennt dabei die Migrationsrealität an den Außengrenzen. Die Schließung des Landwegs über die Länder des Balkans dramatisiert die Situation enorm. Die Fluchtrouten über die Seewege des Mittelmeers werden zunehmend häufiger frequentiert. Die EU muss umgehend ein umfangreiches Seenotrettungsprogramm auferlegen – der Schutz und die Rettung von Menschen darf nicht dem Engagement der Zivilgesellschaft überlassen werden. In diesem Zusammenhang muss von humanitären Rettungseinsätzen und nicht von Grenzschutz gesprochen werden. Es bleibt festzuhalten, dass die Europäischen Außengrenzen nicht vor schutzsuchenden Menschen geschützt werden müssen. In keinem Fall von Asylbegehren handelt es sich um einen Angriff auf Grenzen. Die Rhetorik der Europäischen Kommission zeigt die zynische Realität einer scheiternden europäischen Asylpolitik.
Der Flüchtlingsrat Thüringen fordert daher, dass der Freistaat Thüringen das Landesaufnahmeprogramm für syrische Staatsangehörige auch über 2016 hinaus verlängert. Außerdem sollte sich Thüringen auf Bundesebene für effektive Resettlement-Programme einsetzen.
EU-Türkei-Deal
Der Flüchtlingsrat fordert den Freistaat Thüringen auf, sich auf Bundes- und EU-Ebene für die Aufkündigung des EU-Türkei-Abkommens einzusetzen. In Anbetracht der derzeitigen Umbruchsituation in der Türkei und der daraus resultierenden Gefährdungslage für viele Menschen bekräftigt der Flüchtlingsrat Thüringen die in der gemeinsamen Presseerklärung der Landesflüchtlingsräte vom August 2016 formulierten Forderungen: bundesweiter Abschiebungsstopp in die Türkei, Visumsfreiheit für türkische Staatsangehörige und für alle in der Türkei Verfolgten sowie für Betroffene des Kurdenkrieges.
Impulse zur Beschäftigungsförderung
Flächendeckender und qualifizierter Spracherwerb als Grundlage für Beschäftigung von Flüchtlingen und Migrant*innen
Einer gelingenden Arbeitsmarktintegration von geflüchteten Menschen liegt ein frühzeitiger Spracherwerb zu Grunde. Aktuelle Förderprogramme für zusätzliche Sprachkurse müssen in der Fläche Thüringens ausgebaut und weiter für Menschen aller Herkunftsregionen unabhängig der Bleibeperspektiv-Rhetorik ermöglicht werden. Die Bleibeperspektiven-Rhetorik selbst muss sofort unterlassen werden, um Menschen nicht schon vor der Entscheidung über ihr Asylverfahren Integrationsmöglichkeiten zu verwehren.
Mobilität als wichtiger Faktor für die Beschäftigung von Flüchtlingen und Migrant*innen
Mobilität und Flexibilität werden Arbeitssuchenden grundsätzlich nahegelegt. Die von der Bundesregierung im Integrationsgesetz 2016 beschlossene Wohnsitzauflage ist dabei integrationspolitisch absurd. Der fehlende Wohnraum für sozial benachteiligten Gruppen in vielen Städten ist nicht den Flüchtlingen anzulasten, sondern insbesondere Ausdruck der generellen Versäumnisse beim sozialen Wohnungsbau. Der Zwang zum Verbleib in strukturschwachen Gebieten und die verordnete Immobilisierung werden den Zugang vieler Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt verhindern.
Der Freistaat Thüringen wird angehalten die Wohnsitzauflage nicht weiter zu beschränken und die Wirksamkeit auf den gesamten Freistaat zu belassen. Darüber hinaus fordert der Flüchtlingsrat Thüringen, dass sich der Freistaat auf Bundesebene umgehend für die Abschaffung der Wohnsitzverpflichtung stark macht. Um die Mobilität auch europaweit zu gewährleisten, muss für anerkannte Flüchtlinge die Freizügigkeit innerhalb der gesamten EU ermöglicht werden. Mobilitätsfördernde- und Wohnungsbauprogramme begrüßen wir deutlich als nachhaltige und zielgerichtete Lösungsansätze.
Ausnahmeregelungen, die den Menschen Umzüge gewähren, die einen sicheren Arbeits- oder Ausbildungsplatz nachweisen können, sind ebenso nicht zielführend. Die Vermittlung und der Zugang zum Arbeitsplatz bedürfen einer räumlichen Nähe von Arbeitsgeber*in und Arbeitnehmer*in. Die verordnete Immobilität und Exklusivität geflüchteter Menschen behindern diesen Brückenbau.
Desweiteren muss die Unterbringung von Asylbewerber*innen in infrastrukturell ausgebauten Regionen erfolgen, um ihnen eine reelle Chance auf eine Beschäftigung zu geben.
Zugang zu Bildungseinrichtungen flexibilisieren
Die Zugangsvoraussetzungen für Thüringer Bildungseinrichtungen berücksichtigen nicht die besonderen Lebenslagen geflüchteter Menschen. Es müssen passgenaue Maßnahmen entwickelt werden, um insbesondere junge Flüchtlinge mit ihrem hohen Orientierungsbedarf zu unterstützen und auf dem Weg zu Schulabschlüssen, in Ausbildung oder Arbeit zu begleiten. Ebenfalls sollte bei der Unterbringung von jungen Menschen im Asylverfahren oder mit Duldung darauf geachtet werden, dass sie Zugang zu den Fördermöglichkeiten der Agenturen für Arbeit und Projekten aus dem Landes-ESF erhalten. Asylsuchende sollten als explizite Zielgruppe des Landesarbeitsmarktprogrammes benannt werden und es sollte die Entwicklung passgenauer Unterstützungsangebote angeregt werden.
Besondere Berücksichtigung der Situation von geflüchteten Frauen bei Fördermaßnahmen
Aktuell mangelt es an Sensibilisierung für die Problemlagen und Bedarfe von geflüchteten Frauen beim Zugang zu Ausbildung und Arbeit. Es müssen weitere Maßnahmen ergriffen werden, um benachteiligte Zielgruppen am Arbeitsmarkt besser sozial und beruflich nachhaltig zu integrieren. Entsprechende Ausbildungs- und Vermittlungsprogramme müssen dabei die Voraussetzungen für eine mögliche Arbeitsaufnahme schaffen. Neben dem Ausbau von Betreuungsangeboten für Kinder (Kindertagesstätte, Hort) bedarf es einer speziellen Ausbildungsinitiative für geflüchtete Frauen.
Sensibilisierung der Unternehmen und (Aus)Bildungsstrukturen
Vielfalt braucht Flexibilität und Entgegenkommen. Integration ist keine Einbahnstraße – auch die Strukturen müssen sich flexibilisieren und an die neuen Bedarfe der Menschen anpassen. Dazu braucht es in Thüringen weitere Sensibilisierungsmaßnahmen für Bildungseinrichtungen und Unternehmen. Der interkulturelle Kontext von (Aus)Bildung muss verinnerlicht und verstetigt werden. Schulen, Berufsschulen und Hochschulen brauchen neue und flexible Konzepte sowie Unterstützung bei der Umgestaltung bisheriger teilweise starrer Modelle. Auch viele Thüringer Unternehmen müssen Vorbehalte abbauen und interkulturelles Selbstverständnis erlernen und benötigen dabei Unterstützung durch geeignete Programme und Maßnahmen.
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2016 09 19 Stellungnahme Flüchtlingsrat Thüringen zur Europapolitischen Strategie Freistaat Thüringen