29. Juni 2012
Offener Brief an Thüringens neu gewählte Landräte und Oberbürgermeister

Neu gewählte Landräte und Oberbürgermeister zur Verbesserung der Lebenssituation von Flüchtlingen aufgefordert

Offener Brief

Zunächst möchten wir Ihnen zu Ihrer Wahl herzlich gratulieren und Ihnen anlässlich des Beginns Ihrer Amtszeit zum 01. Juli 2012 viel Kraft und Erfolg für Ihre Arbeit wünschen.

Der Flüchtlingsrat Thüringen e. V. ist ein Interessenvertreter von Flüchtlingen, d. h. InhaberInnen einer Aufenthaltsgestattung, einer Duldung nach § 60a Aufenthaltsgesetz sowie einer zeitlich befristeten Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen. Die Lebensbedingungen von in Thüringen lebenden Flüchtlingen werden maßgeblich durch Entscheidungen der Landräte und Oberbürgermeister der kreisfreien Städte beeinflusst und bestimmt. Im Rahmen des übertragenen Wirkungskreises übernehmen Sie die Verantwortung für die Umsetzung bundesgesetzlicher Vorgaben aus dem Asylverfahrensgesetz und dem Asylbewerberleistungsgesetz. Vor diesem Hintergrund möchten wir Sie auf einige Punkte aufmerksam machen und möchten Sie bitten, sich in Ihrem eigenen Verantwortungsbereich für die Verbesserung der Lebenssituation von in Thüringen lebenden Flüchtlingen einzusetzen.

1. Unterbringung

Das Asylverfahrensgesetz schreibt einerseits die Regelunterbringung von Flüchtlingen in Gemeinschaftsunterkünften vor, macht aber selbst die Einschränkung, dass bei der Wahl der Unterbringungsart sowohl das öffentliche Interesse als auch die persönlichen Belange der Flüchtlinge Berücksichtigung finden müssen. Bereits 1999 kam das Verwaltungsgericht Meiningen in einem Urteil zu der Auffassung, dass „nach dem Ausländerrecht keine gesetzliche Pflicht des Ausländers in einer bestimmten Unterkunft zu wohnen“ besteht.Die Unterbringung von Flüchtlingen zumeist über einen sehr langen Zeitraum in Gemeinschaftsunterkünften stellt eine erhebliche Einschränkung der individuellen Schutzrechte dar. Leben auf kleinstem Raum, Isolierung, Entprivatisierung des Lebens, schlechter baulicher Zustand, Ghettoisierung, Abgeschiedenheit, Stigmatisierung und Ausgrenzung sind kennzeichnend. Insbesondere für Kinder und Heranwachsende bedeutet das Leben in Gemeinschaftsunterkünften eine erhebliche Benachteiligung, die dem zuschützenden Kindeswohl widerspricht. Auch eine Zentralisierung in Wohnungen untergebrachter Flüchtlinge hat erhebliche Auswirkungen, insbesondere auch auf die Manifestierung bestehender Vorurteile und Stereotype und steht dem Anspruch einer vollständigen sozio-kulturellen Integration entgegen.
Wir möchten Sie bitten, die Art der Unterbringung in Ihrem Verantwortungsbereich zu prüfen und unter dem Aspekt einer humanitären Flüchtlingsunterbringung neu auszurichten und ggf. bestehende Gemeinschaftsunterkünfte zu schließen.

2. Bargeldleistungen

Flüchtlinge erhalten Leistungen etwa um 30 % unter dem Grundsicherungsniveau des SGB XII. Dies allein bedeutet eine erhebliche Einschränkung, die nochmals durch die Auszahlung der Leistungen in Form von Gutscheinen verstärkt wird. Durch die weitgehend praktizierte Wertgutscheingewährung wird aufgrund der damit verbundenen Mehrkosten (Fahrtkosten, Unmöglichkeit des Ausweichens auf preiswertere Lebensmittelmärkte und Sonderangebote) die tatsächliche Leistungshöhe nochmals reduziert.

Nach geltender Rechtsauslegung ist keinerlei Priorität von Wertgutscheinen gegenüber einer Bargeldgewährung dem Asylbewerberleistungsgesetz zu entnehmen. Wertgutscheine, Kontenblätter und Bargeld stehen gleichwertig gegenüber. So kommt der wissenschaftliche Dienst des Thüringer Landtages zu der Rechtsauffassung, dass sich die drei genannten Leistungsformen gleichrangig nebeneinander stehen: „Für die drei Ersatzleistungen darf weder in die eine noch in die andere Richtung eine Rangfolge abstrakt, unbedingt und zwingend vorgeschrieben werden.“
Wir möchten Sie daher bitten, die Leistungsgewährung an Flüchtlinge vollständig auf Bargeld umzustellen und verweisen auch begründend auf die Forderung der kommunalen Ausländerbeauftragten, einheitlich Geldleistungen an Flüchtlinge einzuführen: „Unbestritten ist, dass durch die gesonderte Behandlung in Einkaufsstätten durch Gutscheine o. ä. Flüchtlinge stigmatisiert und durch den Verweis auf bestimmte Einkaufsstätten oder den Ausschluss von Wechselgeldzahlungen benachteiligt werden. Zudem werden durch die jedermann offensichtliche umständliche Behandlung dieser betroffenen Ausländergruppe unnötige Angriffsflächen für Fremdenfeindlichkeit geschaffen. Gerade im Zusammenhang mit der neuerlichen Diskussion über Rechtsextremismus in Ostdeutschland wäre hier ein politisches Signal gegen Ausgrenzung von Flüchtlingen wünschenswert. Der vollständige Verzicht auf Sachleistungen zugunsten von Geldzahlungen ist folglich ganz überwiegend im öffentlichen Interesse und sollte auch im öffentlichen Interesse liegen.“

3. Medizinische Versorgung

Nach unseren Erfahrungen werden regelmäßig bezugnehmend auf die Vorgaben der Landesregierung und vor dem Hintergrund der Abhängigkeit von den Erstattungspauschalen des Landes Flüchtlingen eine medizinische Behandlung, die der Würde des Menschen und dem Sozialstaatsprinzip entspricht und das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit nicht dadurch unterläuft, dass notwendige medizinische Behandlungen entweder nicht, nicht im notwendigen Umfang oder nicht entsprechend des heutigen Standes der medizinischen Kunst und Technik gewährt werden, regelmäßig durch Sozial- und Gesundheitsämter der Landkreise und kreisfreien Städte verweigert.

In den uns aus der Praxis bekannten Fällen sind die Einschränkungen des Behandlungsanspruchs unseres Erachtens fast immer gesetzes-, zumeist auch verfassungswidrig. Unzutreffend ist dabei insbesondere die weit verbreitete – aber irrige - Annahme, dass Leistungsberechtigte nach Asylbewerberleistungsgesetz nur bei akuten Krankheiten und Schmerzzuständen behandelt werden dürften. Eine Auslegung des Asylbewerberleistungsgesetzes, dass wegen des dort geregelten Behandlungsanspruchs bei "akuter" Erkrankung ein Anspruch bei "chronischer" Krankheit nicht bestehe, ist schon deshalb falsch, weil in vielen Fällen eine medizinisch sinnvolle Unterscheidung zwischen akuter und chronischer Krankheit gar nicht möglich ist oder jedenfalls bei Nichtbehandlung ein akuter Krankheitszustand droht. Angesichts dessen, dass kein Arzt keinem über Krankheit oder Schmerzen klagenden Patienten Diagnose und Behandlung verweigern darf, kann das Kriterium "akute Krankheit" allein und ausschließlich im Sinne von "akuter Behandlungsbedarf"
zur Heilung, Linderung oder Verhinderung von Krankheit interpretiert werden, wie es beispielsweise auch in Kommentierungen zum Asylbewerberleistungsgesetz (beispielsweise von Meyer/Rösler: § 4 Rn 7) deutlich
wird.

Vor diesem Hintergrund möchten wir Sie bitten, die medizinische Behandlung von Flüchtlingen in Ihrem Verantwortungsbereich kritisch zu prüfen und auf eine Behandlungspraxis umzustellen, die verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist und in der Folge eine menschenwürdige medizinische Behandlung von Menschen ausnahmslos sichert.

4. Solidarische Finanzierung des Psychosozialen Zentrums Jena

Viele Flüchtlinge kommen aufgrund erlebter Fluchtursachen mit psychosomatischen Erkrankungen nach Deutschland, die zwingend einer Therapie bedürfen. Diese notwendigen Therapien müssen durch die Landkreise und kreisfreien Städte nach §§ 4 und 6 Asylbewerberleistungsgesetz gewährt und finanziert werden. Der notwendige Behandlungsbedarf kann aber nicht durch niedergelassene Psychotherapeuten gesichert werden. Seit Jahren bietet daher das Psychosoziale Zentrum PSZ für Flüchtlinge in Thüringen des Vereins Refugio thüringen e.V. eine kompetente, mit dem notwendigen Hintergrundwissen zur spezifischen Situation von Flüchtlingen ausgestattete psychosoziale Beratung und Therapie an. Flüchtlinge aus ganz Thüringen nehmen dieses dringend benötigte Angebot in Jena in Anspruch. Mit dem Beratungs- und Behandlungsangebot nimmt das PSZ damit auch eine in der Verantwortung aller Landkreise und kreisfreien Städte liegende Aufgabe wahr. Die Finanzierung des PSZ ist aber keinesfalls gesichert und auskömmlich. Wir möchten Sie daher bitten, sich für eine zwischen allen Landkreisen und kreisfreien Städten solidarischen Finanzierung und damit Sicherung des Psychosozialen Zentrums einzusetzen. Ein nur geringfügiger Betrag aller Landkreise und kreisfreien Städte würde ausreichen, um dieses für Flüchtlinge dringend benötigte Angebot zu sichern und damit auch der gesetzlichen Verpflichtung zur medizinischen Behandlung von Erkrankungen nachzukommen.

5. Residenzpflicht

Wenngleich die Abschaffung der sogenannten Residenzpflicht nicht in Ihrem Verantwortungsbereich liegt, möchten wir Sie bitten, gegenüber der Landesregierung sich für die Ausweitung des Residenzpflichtbezirkes auf das gesamte Gebiet des Freistaates auszusprechen und eine generelle Abschaffungder im Asylverfahrensgesetz verankerten Beschränkung der Bewegungsfreiheit von Flüchtlingen zu fordern.

Wir möchten Ihnen auf diesem Weg gerne anbieten, in einem persönlichen Gespräch Ihnen unsere Positionen vorzustellen und mit Ihnen mögliche Aufnahmebedingungen für Flüchtlinge zu erörtern. Gerne bieten wir Ihnen auch an, Sie bei der Umsetzung einer menschenwürdigen Aufnahme und Unterbringung von Flüchtlingen zu begleiten und im Rahmen unserer Möglichkeiten zu unterstützen.

Mit freundlichen Grüßen
Steffen Dittes
Vorsitzender