1. Juni 2017
Redebeitrag zur Kundgebung “Keine Abschiebung - Nirgendwohin” vom 31. Mai

Der Redebeitrag des Flüchtlingsrat Thüringen e.V. zur Kundgebung “Keine Abschiebung - Nirgendwohin” vom 31.05.2017 in Erfurt

 

„Bombenanschläge, bewaffnete Überfälle und Entführungen gehören seit Jahren in allen Teilen von Afghanistan zum Angriffsspektrum der regierungsfeindlichen Kräfte. […] Vor Reisen nach Afghanistan wird gewarnt. – Wer dennoch reist, muss sich der Gefährdung durch terroristisch oder kriminell motivierte Gewaltakte bewusst sein. Auch bei von professionellen Reiseveranstaltern organisierten Einzel- oder Gruppenreisen besteht unverminderte Gefahr, Opfer einer Gewalttat oder einer Entführung zu werden. Für zwingend notwendige Reisen nach Afghanistan gilt: Der Aufenthalt in weiten Teilen des Landes bleibt gefährlich.“ Diese Sätze stammen nicht von uns - mit ihnen hat das Auswärtige Amt vergangenen Montag seine Reisewarnungen für Afghanistan weiter verschärft.


Die katastrophale Sicherheitslage in Afghanistan ist für die Bundesregierung also Grund genug zur Sorge um Leib und Leben deutscher Tourist*innen und Geschäftsleute. Bei abgelehnten Asylbewerber*innen spielen solche Erwägungen scheinbar keine Rolle mehr. Heute – gerade einmal anderthalb Wochen nach der Änderung der Reisewarnung - wollte die Bundesregierung ein gechartertes Flugzeug voller Afghan*innen von Frankfurt am Main nach Afghanistan abschieben.
Diese Abschiebung wäre nicht die erste ihrer Art gewesen. Seit Dezember 2016 wurden bereits fünf andere Abschiebeflüge nach Afghanistan durchgeführt, im Juni soll der siebte folgen. Heute Morgen starben bei einem Anschlag in Kabul mehr als 80 Menschen. Mindestens 350 weitere wurden verletzt. Kabul selbst zählt zu den Regionen, die von der Bundesregierung als sicher deklariert wurden. Als Reaktion auf den Anschlag wurde der heutige Flug von der Bundesregierung gecancelt. Doch es reicht nicht, einen einzigen Abschiebeflieger zu stornieren. Die Bundesregierung müsste alle weiteren geplanten Abschiebungen nach Afghanistan sofort stoppen und dies auch öffentlich erklären, um den Afghan*innen mit unsicherem Aufenthaltsstatus die Angst zu nehmen! Stattdessen heißt es nun, die deutsche Botschaft in Kabul hätte eine wichtige logistische Rolle beim Empfang „rückgeführter“ Personen vor Ort und hätte nun, so kurz nach dem Anschlag, Wichtigeres zu tun, als solche organisatorischen Maßnahmen vorzubereiten. Die „Durchsetzung der Ausreisepflicht“ bleibe auch weiterhin ihr Grundsatz und dieser Weg solle „konsequent weiter beschritten“ werden. Die Abschiebung wurde also nicht zum Wohl der Afghan*innen, sondern zur Entlastung der Botschaftsmitarbeiter*innen ausgesetzt. Die Tagesschau spricht folgerichtig vom unglaublichen Zynismus Deutschlands, der kaum mehr zu überbieten sei.


Vergangene Woche rechtfertigte Angela Merkel die Abschiebungen nach Afghanistan erneut auf dem Evangelischen Kirchentag. Wenn in einem Rechtsstaat nach mehrfacher Prüfung eine Entscheidung gegen einen Aufenthalt in Deutschland getroffen werde, müsse diese umgesetzt werden, so Angela Merkel. Wie fatal diese Einschätzung ist, wird deutlich, wenn man die schwerwiegenden Mängel in den Asylverfahren betrachtet. Bisher wurde in diesem Jahr rund die Hälfte aller Asylanträge von Afghan*innen abgelehnt, während im vergangenen Jahr noch 60 und 2015 sogar 78 Prozent aller Antragsteller*innen aus Afghanistan einen positiven Bescheid erhielten. Neue Informationen zur gefährlichen Lage in Afghanistan werden vom BAMF bewusst ignoriert, unter anderem jene, die der UNHCR zur Verfügung stellt. Entscheidungen werden nach dem Zufallsprinzip getroffen – dies hat nichts mit Rechtsstaatlichkeit zu tun. Auch wird in den Bescheiden des Bundesamtes immer wieder darauf verwiesen, dass die Betroffenen sich in anderen Regionen Afghanistans in Sicherheit bringen könnten. Das ist blanker Hohn, wenn man berücksichtigt, dass sich der Konflikt in Afghanistan mittlerweile über die ursprünglichen Kampfgebiete hinaus ausgeweitet hat. Menschen können überall zum Opfer von Kampfhandlungen, Anschlägen und Verfolgung werden. Dies belegt nicht zuletzt auch der schwere Anschlag von heute Morgen. Das BAMF muss die vergangenen Ablehnungsbescheide für Afghan*innen korrigieren und seine Entscheidungspraxis für zukünftige Entscheidungen endlich an die immer gefährlichere Situation in Afghanistan anpassen!
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist so unberechenbar, dass auch der UNHCR eine Unterscheidung von „sicheren“ und „unsicheren“ Gebieten ablehnt, wie sie die Bundesregierung betreibt. Aufgrund des bewaffneten Konflikts hat sich die Zahl der Binnenvertriebenen in Afghanistan in den vergangenen drei Jahren fast verdoppelt und liegt bei 1,4 Millionen. Seit Anfang des Jahres mussten in Afghanistan erneut mehr als 100.000 Menschen ihre Häuser und Heimat verlassen, wie die Vereinten Nationen berichten. Selbst die NATO plant, ihren Militäreinsatz aufgrund der verschlechterten Sicherheitslage wieder deutlich zu verstärken.


Wenn Angela Merkel auf dem Kirchentag davon spricht, man müsse nach Afghanistan abschieben, um sich wieder auf die „wirklich Hilfsbedürftigen“ konzentrieren zu können, ist das angesichts der vorliegenden Informationen über die Lage in Afghanistan letztlich und im Kern menschenverachtend und zeigt, wie sehr das Grundrecht auf Asyl inzwischen ausgehöhlt wurde. Wer soll denn noch „wirklich hilfsbedürftig“ sein, wenn nicht Menschen aus Afghanistan?
Das ist keine radikale oder übertriebene Einschätzung, eine breite Basis an Wohlfahrtsverbänden und Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International, die Arbeiterwohlfahrt, der Paritätische Gesamtverband, die Diakonie, der Jesuiten-Flüchtlingsdienst, die Neue Richtervereinigung, der Republikanische Anwaltsverein und viele mehr fordern einen sofortigen Abschiebestopp nach Afghanistan, von dem breiten gesellschaftlichen Protest ganz zu schweigen.
Allein heute und jetzt gerade finden in mindestens 14 anderen deutschen Städten und am Flughafen Frankfurt selbst Demonstrationen gegen Abschiebungen nach Afghanistan statt. Abschiebungen nach Afghanistan sind weder politisch noch moralisch vertretbar!


Der Freistaat Thüringen hat sich bis jetzt nicht an Abschiebungen nach Afghanistan beteiligt. Dennoch bekommen wir in unserer täglichen Beratung von Geflüchteten mit, dass auch in Thüringen Ausländerbehörden die neue Linie der Bundesregierung durchsetzen wollen. So mehren sich Berichte, nach denen Thüringer Ausländerbehörden den Druck auf abgelehnte Afghan*innen erhöhen, die sogenannte „freiwillige“ Ausreise zu wählen. Dies muss sofort beendet werden!
Kein Mensch flieht ohne Grund aus seinem Herkunftsland, auch wenn dies im Rahmen des Asylverfahrens häufig nicht anerkannt wird. Abschiebungen, also die Durchsetzung der Ausreisepflicht durch Zwang und Gewalt, sind immer traumatisierend. Sie verursachen schon im Vorfeld große Angst und psychische Belastungen bei den Betroffenen und können kein Instrument einer Flüchtlingspolitik sein, welche die Grund- und Menschenrechte wahrt. Das gilt für Abschiebungen nach Afghanistan, genauso wie für alle anderen Länder auch.